Tonspuren 1980er: Joachim Witt – „Der Goldene Reiter“  Beton und Neonlicht

Tonspuren 1980er Illustration: © Hanka Sedláček

Der Song „Der Goldene Reiter“ (1980) von Joachim Witt wird dem Genre Neue Deutsche Welle (NDW) zugeordnet. Was heute unter dem Begriff firmiert, muss differenziert betrachtet werden. Zunächst als dilettantische Graswurzel-Bewegung in Anlehnung an den DIY-Gedanken von Punk gestartet, erweitert sich der Bezugsrahmen des Begriffs im Laufe der Zeit.

Tonspuren

Der Musikjournalist Mario Lasar wirft mit acht deutschsprachigen Songs aus acht Jahrzehnten einige Schlaglichter auf wichtige kulturelle und soziale Phänomene der (bundes-)deutschen Nachkriegsgeschichte.

Die meisten Songs und Künstler*innen, die in dieser Serie erwähnt werden, können (in der Reihenfolge ihrer Erwähnung) in einer Spotify-Playlist nachgehört werden: open.spotify.com/playlist/soundtracksBRD/
Anfang der 1980er avancieren immer mehr Künstler*innen zu Trittbrettfahrern, die sich mit dem Label Neue Deutsche Welle zu schmücken wollen. Bereits im Jahre 1982 entspricht die NDW einem konturlosen Konglomerat aus notdürftig auf neu stilisierten Schlageridiomen, wie sie etwa von Nena vorgetragen werden, und müde gewordenen Pionier*innen der Anfangstage, die jedoch wie DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) und Ideal schon bald ihre Auflösung bekannt geben.

Gleichwohl wohnt selbst dem unter dogmatischen Gesichtspunkten als Emporkömmling und Fake geltenden Hubert Kah noch ein Glamour inne, der ihn von den banalen und saturierten Schlagerstars der 70er abhebt. Kah steht für die kommerzielle Seite der NDW, und doch stellt der Umstand, dass er in der ZDF-Hitparade – dem Austragungsort Musik gewordener Spießigkeit – im Nachthemd auftritt, für mich als damals 11-Jährigen einen ungeheuerlichen und erfrischenden Bruch mit den Konventionen dar. Dazu spielt er eine Musik, die neu und jung klingt– und vom Diktat des Schunkelrhythmus befreit.

Tatsächlich kommt der NDW eine singuläre Stellung innerhalb der deutschen Musikgeschichte zu. Nie mehr davor oder danach war es möglich, mit Regelbrüchen musikalischer oder performativer Natur derart erfolgreich zu sein. Der NDW gelang es, eine Schnittmenge zu bilden zwischen Verhaltensauffälligkeit und kommerziellem Entertainment.

Der 1949 geborene Joachim Witt bewegt sich zur Hochzeit der NDW im Spannungsfeld zwischen Pioniergeist und Opportunismus. Witt hat angefangen als Gitarrist bei der Deutschrockband Duesenberg, die weit davon entfernt ist, musikalische Grenzen einzureißen. Als Witt seine Bandgenossen mit dem von ihm geschriebenen Der Goldene Reiter konfrontiert, tun diese den Song als albern ab. Obwohl der Musiker 1980 schon Anfang dreißig ist und damit etwa zehn Jahre älter als die Vertreter*innen der Ursprungs-NDW, scheint es sich bei ihm um einen Überzeugungstäter zu handeln. Er macht sich auf die Suche nach einem Plattenvertrag als Solokünstler.

Nachdem das Ende 1980 veröffentlichte Album Silberblick zunächst wenig erfolgreich ist, ändert sich dies schlagartig, als Witt im November 1981 in der Fernsehsendung Musikladen auftritt. Dieser Auftritt kann als einschneidendes Ereignis in der Geschichte des deutschen Fernsehens gelten. Witt performt hier Der Goldene Reiter im Sinne des Method Acting. Mittels ausladender, eckiger Gestik und manisch-verstörter Mimik visualisiert er den Songtext, der aus der Perspektive eines Psychiatrie-Patienten geschildert wird, auf eindrucksvolle Weise. Dabei scheint die Art, wie sich der Sänger in die Rolle des Geisteskranken projiziert, so authentisch, dass viele Zuschauer*innen glauben, Witt sei tatsächlich „der goldene Reiter“.

Song und Auftritt avancieren binnen kurzer Zeit zu einem solchen Gesprächsthema, dass sich Der Goldene Reiter in der folgenden Woche in den Charts platziert und als höchste Position Platz 2 erreicht. Insgesamt verkauft sich die Single circa 250.000 mal, das Album Silberblick circa 300.000 mal. Es zeigt sich hier, welche Wirkung ein einziger Fernsehauftritt in den frühen 80er Jahren noch nach sich ziehen konnte.

Wenn man bezüglich der NDW überhaupt zwischen Underground und Overground unterscheiden möchte, bildet Der Goldene Reiter den Höhepunkt in letztgenanntem Segment. Musikalisch ist das Stück mit seinem monotonen Beat und der schneidigen Gitarrenuntermalung Witts individuelle Variation einer NDW typischen Formensprache. Die Musik zwingt sich zur Reduktion, streift Dissonanz höchstens, statt sie auszustellen. Damit entspricht der Song den Kriterien eines kommerziellen Hits. In der damals führenden Musikzeitschrift Sounds spricht der Musikjournalist Xao Seffcheque despektierlich von der neuen „Intercity-Speisewagen-Musik“ – eine an die neue Zeit angepasste Modifikation des alten Begriffs „Fahrstuhl-Musik“.

Natürlich lässt sich dem Stück eine gewisse Stromlinienförmigkeit nicht absprechen. Aber gerade in Kombination mit Witts manieriertem Gesang und dem innovativen Text lehnt sich der Song enorm weit aus dem Fenster. Witt benutzt Wörter, die vorher nicht in Popsongs vorkamen. „Fassungsvermögen“, „Behandlungszentren“ oder „Umgehungsstraße“ sind enorm technische, kalte Begriffe, die perfekt in die Zeit der frühen 80er passen.

Unter Zuhilfenahme einer fast architektonischen Sprache kreiert Witt ein Ambiente, das die damals verbreitete Paranoia angesichts des drohenden Orwellschen 1984 kongenial umsetzt. Der Goldene Reiter wertet die alte Wohlfühl-Innerlichkeit der 70er Jahre um zu einem Gefühl der Beklemmung. Dass das Stück zum Hit wurde, zeigt an, wie groß die Bereitschaft war, sich einzulassen auf Inhalte und Themen, die ehemals tabuisiert waren. Der Goldene Reiter ist repräsentativ für einen kurzen Zeitabschnitt, in dem die Wirklichkeit aus Beton und Neonlicht zu bestehen schien.

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