Berlins Lateinamerikaner
Auf den Spuren einer unübersehbaren Minderheit

Buddy Bears Ausstellung Rio de Janeiro 2014
Buddy Bears Ausstellung Rio de Janeiro 2014 | Foto: Doris Rieck - CC0

Lateinamerikaner gibt es in Berlin nicht viele. Aber bei genauem Hinsehen wird klar: Sie sind in allen kulturellen Bereichen des Stadtlebens aktiv.

In dieser Stadt verändert sich ständig alles. Die Mehrheit der Berliner erinnert sich noch daran, wie es war, als ihre Stadt in zwei Teile geteilt war und die Beziehungen zwischen beiden Teilen so eingeschränkt waren, als handelte es sich um zwei Länder, die tausende Kilometer voneinander entfernt liegen. Heute, fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall von 1989, scheint die Teilung Berlins beinahe eine Fiktion gewesen zu sein. Auch das Stadtbild ändert sich ständig. Wo bis vor Kurzem nur Erde, Wiese und Schutt zu erblicken waren – auf dem Potsdamer Platz, in Straßen des Bezirks Mitte, auf den Grundstücken in der Nähe der ehemaligen Mauer – erheben sich heute moderne Gebäude, Luxusapartments, Hotels für die Millionen von Touristen; denn Berlin hat sich vom Aschenputtel zu einer der attraktivsten, lebendigsten und kosmopolitischsten Städte des Planeten gemausert.

Alles verändert sich ständig. Und genauso verändert sich die lateinamerikanische Gemeinde in Berlin. Es gibt keine genauen Statistiken über die Zahl der hier lebenden Lateinamerikaner, wahrscheinlich sind es an die 12.000. Eine zweifellos überschaubare Zahl an Menschen, die aber dennoch seit Jahrzehnten aus dem Berliner Leben nicht mehr wegzudenken ist.

Politische Flüchtlinge und Künstler

Die Präsenz von Lateinamerikanern in Berlin und in Deutschland im Allgemeinen hat stets die politischen Umstände auf dem lateinamerikanischen Kontinent widergespiegelt. Bis vor einigen Jahren war es leicht festzustellen, dass ein bedeutender Anteil der Immigranten ihre Länder wegen der dortigen Diktaturen verlassen hatte. So war es bei tausenden von Chilenen, die ab 1973 – nach der gewaltsamen Machtübernahme Pinochets – nach Deutschland kamen. Schätzungen gehen von etwa 4.000 Menschen aus, die in der BRD, und weiteren 3.000, die in der DDR Asyl fanden. Unter den herausragendsten Persönlichkeiten aus Chile war zum Beispiel der Schriftsteller Antonio Skármeta, der bis Ende der 80er Jahre in Westberlin lebte. Auch viele Kubaner kamen hierher, in den Westen, wenn sie vor dem 1959 errichteten sozialistischen Regime flohen, oder in den Osten wegen der politischen Nähe zwischen Kuba und der DDR: Bis zu 30.000 Kubaner besuchten die DDR als Studierende oder Arbeiter von den sechziger bis in die neunziger Jahre. Gleichzeitig trifft man in Berlin auf kolumbianische Ex-Guerilleros, die in den vergangenen Jahrzehnten hier oder in anderen deutschen Städten politisches Asyl suchten.

Die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in Lateinamerika bewegen weiterhin viele Lateinamerikaner nach Deutschland zu gehen: der Konflikt in Kolumbien, die Krise in Argentinien oder die Instabilität in Venezuela, um nur drei Beispiele zu nennen. Aber in den letzten Jahren hat die internationale Begeisterung für Berlin als eine offene und dynamische Stadt bewirkt, dass sich der neuen Berliner Künstlerszene auch immer mehr Lateinamerikaner anschließen. Nicht immer gehören sie dem traditionellen künstlerischen Establishment der Stadt an, das im Übrigen trotz ihrer Weltoffenheit weiter auf künstlerische Produktionen aus dem „globalen Norden“ fokussiert ist: aus Europa und den USA. Trotzdem sind in allen Bereichen der Kreativszene lateinamerikanische Vertreter anzutreffen.

So gibt es in Berlin das lateinamerikanische Filmfestival Lakino. 2010 vom Peruaner Martín Capatinta gegründet, zeigt es jeweils im Herbst eine Auswahl von Spiel- und im Frühjahr von Kurzfilmen. Eine große Zahl lateinamerikanischer Filmemacher und Künstler lebt und arbeitet regelmäßig in Berlin, einige von ihnen sind international bekannt. Zu ihnen gehören der argentinische Architekt, Performance- und Installationskünstler Tomás Saraceno, der brasilianische Filmemacher Karim Aïnouz, der chilenische Fotograf Pablo Zuleta Zahr oder die kolumbianischen Künstler María Linares und Édgar Guzmanruiz – und das sind nur einige aus der langen Liste. Neben den vielen Bands, die so beliebte Musikrichtungen wie Salsa, Son Cubano und Bossa Nova spielen, waren und sind Lateinamerikaner auch in den Berliner Institutionen für klassische Musik vertreten: Der Argentinier Jorge Uliarte dirigierte die Berliner Symphoniker, der Brasilianer Luiz Filipe Coelho ist ein mit Preisen ausgezeichneter Violinist der Berliner Philharmoniker und der berühmte argentinische Pianist und Dirigent Daniel Barenboim, der seit vielen Jahren die Berliner Staatsoper dirigiert, ist eine der Lieblingsfiguren in der Berliner Musikwelt.

Viel mehr als Salsa und Tacos

Viele Wissenschaftler, die nach Berlin kommen, um zu lateinamerikanischen Themen zu arbeiten, finden am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität Berlin ein interdisziplinäres Forschernetzwerk, das sich auf die Region spezialisiert hat, und am Iberoamerikanischen Institut am Potsdamer Platz die größte Bibliothek für iberoamerikanische Themen in Deutschland. Auch die Buchhandlungen Rayuela in Kreuzberg und Mundo Azul in Mitte sind Teil des literarischen lateinamerikanischen Lebens in Berlin. Seit 2006 wird dazu in Berlin und Osnabrück das mobile lateinamerikanische Poesiefestival Latinale zelebriert, das alljährlich junge, anerkannte lateinamerikanische Dichter zusammenbringt. Seit Jahrzehnten sind außerdem Medien zur Berichterstattung aus den lateinamerikanischen Ländern in Berlin angesiedelt. Da gibt es einerseits Projekte wie die Monatszeitschrift Lateinamerika Nachrichten und das Internetportal amerika21, die Nachrichten, Reportagen und Analysen über Lateinamerika in deutscher Sprache liefern. Andererseits sendet die Deutsche Welle (DW), der staatliche deutsche Auslandsrundfunk, täglich Nachrichtenprogramme und Hintergrundberichte zu Lateinamerika auf Spanisch.

Es ist wahrscheinlich, dass der musikalische und gastronomische Reichtum Lateinamerikas in Berlin lange Zeit im Wesentlichen – und vor allem im ehemaligen Westteil – durch zwei Dinge repräsentiert war: ein wenig schäbige, in Kellerräumen versteckte, düstere Salsabars und ein wenig fade mexikanische Restaurants. Zum Glück hat sich dieses Angebot verändert und lateinamerikanische Musik scheint nicht mehr nur eine exotische Kuriosität zu sein. Im Moment kann man in einigen der am meisten frequentierten Berliner Clubs – Clärchens Ballhaus und Soda Club –  Salsa tanzen. Seit Jahren ist die Stadt, neben Paris, außerdem als internationale Tangohauptstadt bekannt und die hunderte Anhänger des argentinischen Rhythmus haben Nacht für Nacht die Gelegenheit, ihn in den Tanzstudios der Stadt zu praktizieren. Was die Gastronomie betrifft, findet in Berlin gerade – so wie in New York und London – ein regelrechter Boom der peruanischen Küche statt. Sie ist eindeutig dabei, sich in die neue gastronomische Stärke Lateinamerikas zu verwandeln. Es gibt nicht nur peruanische Restaurants in gehobeneren Stadtteilen Westberlins etwa Serrano oder Sabor latino, sondern seit Neuestem eröffnen sie mit einem etwas moderneren Anstrich auch in den quirligsten Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln. Es ist durchaus möglich, dass der gastronomische Höhenflug zusammen mit den Künsten in den nächsten Jahren dazu beitragen wird, das Bild von Lateinamerika weiter zu verändern: internationaler, jünger, selbstbewusster.

Natürlich gibt es ein weiteres Kapitel, das eine eingehende Untersuchung wert wäre und an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden kann: In den nächsten Jahren werden viele deutsch-lateinamerikanische Paare Kinder haben, die sich in beiden Kulturen zu Hause fühlen. Das wird zweifellos nicht nur die Beziehungen zwischen beiden geographischen Regionen enger werden lassen, sondern auch die Präsenz der lateinamerikanischen Kultur in ganz Deutschland stärken und größere Bedeutung verleihen.
 

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