Fake News
„Man kann Desinformation nicht einfach ignorieren“
Was tun gegen die Flut an Falschmeldungen, Lügen und Verschwörungen, die täglich im Internet verbreitet werden? Viele etablierte Medien wollen mit Faktenchecks gegenhalten und haben Abteilungen eingerichtet, die Meldungen und Politikeraussagen auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. So auch die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ARD, die 2017 mit ihrem faktenfinder-Team an den Start ging. Der Journalist und Leiter der ARD-faktenfinder Patrick Gensing im Gespräch über Fake News, Social Media und die Herausforderung, die sie für etablierte Medien in Deutschland darstellen.
Von Petra Schönhöfer
Patrick Gensing leitet die Redaktion des ARD-faktenfinders.
| Foto: © WDR
Patrick Gensing, als Redaktionsleiter des ARD-faktenfinders widerlegen Sie seit 2017 hauptberuflich Falschmeldungen. Haben Sie 2021 mehr zu tun als vor vier Jahren?
Wir haben immer sehr viel zu tun und könnten jeden Tag sehr, sehr viele Faktenchecks umsetzen, wenn wir auch wirklich alles aufgreifen würden. Aber gerade durch die Corona-Pandemie erleben wir eine neue Dimension der Desinformation.
Wie wählen Sie aus dieser Masse von Falschnachrichten Ihre Themen aus?
Die meisten Themen ergeben sich aus der Aktualität. Wir bekommen Zuschriften, auf die uns die Kolleginnen und Kollegen aus dem aktuellen Dienst aufmerksam machen. Oder die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Social Media sagen: Das ist bei uns in den Kommentaren aufgeschlagen. Dann wählen wir nach Relevanzkriterien aus, was wir wirklich aufgreifen.
Was wäre ein solches Relevanzkriterium?
Ein Beispiel ist die Reichweite. Diese messen wir mit einem Tool, mit dem wir sehen können, wie oft Beiträge auf Twitter, Facebook, Instagram und so weiter geteilt wurden. Wir beobachten auch, was relevante Personen gesagt haben: Wenn Betroffene von Desinformation systematisch attackiert werden, greifen wir es ebenfalls auf. Und wenn sich bestimmte Narrative wiederholen, versuchen wir, diese Muster zu erklären.
Wie Sie sagen, spielen Social Media bei der Verbreitung von Fake News eine nicht unerhebliche Rolle. Viele Themen und Debatten werden dort sehr verknappt dargestellt.
Der Konsum von Nachrichten findet heute extrem beschleunigt statt. Das heißt: Viele Menschen werden 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche auf dem Mobiltelefon mit Nachrichten bombardiert. Sie wählen dann die Möglichkeit, nur noch das zu konsumieren, was ins eigene Weltbild passt, um Widersprüche auszuklammern – was wiederum zu den berühmten Echokammern, zu Filterblasen führt. Wer versucht, sich ein differenziertes Bild der Realität zu verschaffen, müsste verschiedene Quellen konsumieren. Das aber ist anstrengend. Das heißt: Nachrichtenkonsumenten und -konsumentinnen brauchen Medienkompetenz, um überhaupt zu verstehen, wie das funktioniert. Es liegt nicht nur an den Medien oder der Politik gegen Falschmeldungen vorzugehen. Sondern es muss tatsächlich auch ein ziviles Verantwortungsbewusstsein im Digitalen geben: Dass ich nicht alles, was ich irgendwo aufschnappe, weitererzähle. Was ich im realen Leben ja auch nicht tun sollte – wenn mir eine Unbekannte oder ein Unbekannter auf der Straße irgendeinen Unsinn erzählt, dann gebe ich das ja auch nicht ungefiltert weiter. Sondern überlege erst mal: Wer ist das, was sagt sie oder er mir, für wie glaubwürdig und plausibel halte ich das? Und genau diese Fragen muss man sich beim Medienkonsum auch stellen.
Welche Möglichkeiten haben denn da noch die Qualitätsmedien, die Realität in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit darzustellen?
Faktenchecks sind ein Angebot von vielen, um die Diskussion zu versachlichen. Und vielleicht auch mal einen Schritt zurück zu treten und zu sagen: Worüber reden wir eigentlich gerade? Bestimmte Begriffe und Narrative zu hinterfragen und die Mechanismen, die hinter Desinformation und gezielten Falschmeldungen stecken, aufzuzeigen. Damit die Menschen sie auch wiedererkennen, wenn sie bei anderen Themen damit konfrontiert sind. Eine Verschwörungslegende funktioniert ja immer nach dem gleichen Prinzip, und dieses Prinzip lässt sich erklären.
Screenshot der Website des ARD-faktenfinders.
| Foto: © Screenshot ARD faktenfinder
Liegt in dieser Situation nicht vielleicht auch eine Chance für den Qualitätsjournalismus?
Das ist ein Effekt, der zu beobachten ist. Medienschaffende müssen ihre Rolle wieder viel stärker reflektieren beziehungsweise eine neue Rolle suchen. Durch die Digitalisierung hat sich auch ihre Gate-Keeper-Funktion ein Stück weit aufgelöst. Jede*r kann heute zum Absender von Nachrichten werden. Man kann es durchaus positiv sehen, dass so eine Art Demokratisierung des Diskurses stattgefunden hat. Wenn etwa Politiker*innen das Mittel der Lüge wählen – und Donald Trump ist dafür das beste Beispiel – können wir als Medienschaffende nicht nur abbilden: „Donald Trump hat das gesagt“. Es gehört eine professionelle Einordnung dazu, mit dem Hinweis, dass diese Behauptung nicht stimmt. Da gibt es definitiv für den Journalismus eine große Chance. Auf der Nutzerseite, bei den Konsumierenden, können wir erkennen, dass etablierte Medien gerade in Krisenzeiten großen Zulauf haben. Wir sehen das bei der Tagesschau in der Corona-Pandemie. Auch in den USA konnte man beobachten, dass Traditionsmedien wie die New York Times wirklich boomen. Unsere Chance besteht also darin, Orientierung zu bieten, wenn die Menschen etwas im Internet lesen und bei uns nachschauen: Stimmt das? Im Wust der digitalen Ströme, im riesigen Nachrichtenfluss, können wir die Steine sein, an denen sich die Menschen festhalten.
Sehen Sie bei der Verbreitung von Desinformation auch die Politik in der Verantwortung?
Ich bin bei gesetzlichen Interventionen sehr zurückhaltend. Es gibt bereits klare Regelungen, was die Meinungsfreiheit betrifft, was Straftatbestände wie Verleumdung, üble Nachrede und Volksverhetzung angeht. Ich glaube nicht, dass wir weitere Gesetze brauchen. Was sich natürlich stellt, ist die Frage nach den Plattformen: Welche Verantwortung hat beispielsweise Facebook für die Inhalte auf seiner Seite? Facebook versucht, sich als reiner Dienstleister darzustellen. Aber wenn sie für die Inhalte, die dort verbreitet werden, medienrechtlich verantwortlich wären, würde deutlich weniger passieren. Dass der öffentliche Diskurs auf privaten Plattformen stattfindet, mit Regelungen, die für uns gar nicht transparent nachvollziehbar sind, ist ein grundsätzliches Problem. Auch, dass die Algorithmen bestimmte Inhalte priorisieren, die möglichst viele Reaktionen hervorrufen und polarisieren. Wenn ich mich da für irgendwelche rechtsradikalen Seiten interessiere, kommen sofort ganz viele neue Vorschläge, und in kürzester Zeit bin ich in einer Parallelwelt. Das trägt natürlich zu einer Fragmentierung der Gesellschaft bei.
Sie sind durch Ihre Arbeit auch immer wieder persönlichen Angriffen ausgesetzt. Wie beurteilen Sie ganz allgemein die Sicherheitslage für Journalist*innen in Deutschland?
Die hat sich deutlich verschärft. Zum einen gibt es seit Jahren Drohungen und Beleidigungen, und auch ich bin regelmäßig davon betroffen. Zum anderen besteht aber auch die Gefahr, dass Kollegen und Kolleginnen vor Ort wirklich attackiert werden. Das Feindbild Medien spielt eine riesige Rolle bei fanatischen Bewegungen, wie wir sie beispielsweise bei den Corona-Leugner*innen gesehen haben. In Leipzig wurden Dutzende Reporter und Reporterinnen attackiert. Auch in Berlin gab es Angriffe. Man sieht, dass es nicht bei Beleidigungen bleibt. Freie Medien werden von autoritären Anführern wie Viktor Orbán oder Wladimir Putin als Bedrohung gesehen, weil sie nicht kontrollierbar sind. Deshalb versuchen sie, sie einzuschüchtern oder zum Schweigen zu bringen. Und genau das darf nicht passieren.