Aktuelle Graphic Novels Von Vergangenheit und Gegenwart gezeichnet
In zwei aktuellen Comicerzählungen geht es auf Zeitreisen zurück in die 1950er- und die 1970er-Jahre, in zwei anderen werden sehr gegenwärtige Themen behandelt: die aktuelle Arbeitswelt und die Problematik kultureller Aneignung.
Von Holger Moos
Homosexualität war im Fünfzigerjahre-Deutschland ein Tabuthema. Der Comickünstler Matthias Lehmann erzählt in seiner Graphic Novel Parallel die Geschichte von Karl Kling, der seiner Tochter Hella einen Brief schreibt. Es ist eine Lebensbeichte, in der er erklärt, warum er als Ehemann und Vater versagt hat und an den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit und seiner sozialen Schicht gescheitert ist. Und er offenbart ihr seine Liebe zu Männern. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker ist in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung begeistert von der Themenvielfalt, die das Debüt abdeckt. Es sei ein „Comic übers Schwulsein in der Nachkriegszeit, über das geteilte Deutschland, ein Arbeiterklasse-Schicksal und einen Generationenkonflikt“. Das sei zwar ein Haufen Holz, aber Lehmanns Ansatz, alles in das Arbeitermilieu einzubetten, in dem Karl sowohl die Saufgelage mit seinen Macho-Kumpels als auch die geheimen Affären mit seinen männlichen Liebschaften genießt, sei absolut überzeugend. Auch stilistisch seien die Schwarz-Weiß-Zeichnungen meisterlich.
Jennifer Daniel reist in ihrer Comicerzählung Das Gutachten ebenfalls in die Vergangenheit, in die späten 1970er-Jahre. Eine junge RAF-Sympathisantin und ihr kleiner Sohn kommen bei einem Autounfall ums Leben, vom Unfallverursacher fehlt jede Spur. Daraufhin versucht ein Angestellter der Bonner Rechtsmedizin aus persönlichen Gründen dem Fall auf den Grund zu gehen. Daniel fängt das Zeitkolorit einer Epoche, in der man noch überall rauchen konnte und Alkohol am Steuer sowie Sexismen als Kavaliersdelikte galten, sehr gekonnt ein. Auch die verdrängte Nazi- und Kriegsvergangenheit wirken sowohl im persönlichen Unterbewusstsein als auch in den Machtstrukturen in Politik und Gesellschaft fort. Die Künstlerin legt damit einen „spannenden, beklemmenden und grafisch wunderschönen Politkrimi aus der Bonner Republik“ vor, so Barbara Buchholz im Tagesspiegel. Jennifer Daniel war mit Das Gutachten als Finalistin zum Comicbuchpreis 2021 der Berthold Leibinger Stiftung nominiert. Gelobt wurde ihr „Zeichenstil, der an das Dekor und die Stimmung des 'Internationalen Frühschoppen' mit Werner Höfer (die Brille!) in der ARD erinnert“.
Bullshit Jobs und Skinheads
Ganz gegenwärtig ist Aisha Franz‘ neuer Comic Work-Life-Balance. Darin erzählt und zeichnet die Künstlerin witzig und virtuos von der aktuellen Arbeitsrealität junger Erwachsener. Es geht um Träume und Frustrationen, Burn-out und Bullshit-Jobs. Da ist Anita, Herstellerin von Gebrauchskeramik, die sie in einem Wutanfall zerstört. Sandra arbeitet in einem Start-up, bekommt von ihrem Chef eine Therapie nahegelegt. Rex, die dritte Hauptfigur, ist freiberuflicher Programmierer, wird aber von seinem Auftraggeber über den Tisch gezogen. Alle drei landen in der Praxis von Frau Dr. Sharifi, einer wunderlichen Psychotherapeutin. Michael Brake vom Magazin fluter findet die cartoonartig gezeichnete Geschichte zwar nicht unbedingt originell und auch etwas klischeebehaftet, „dennoch gelingt es Franz, daraus eine kritische und gleichzeitig humorvoll-leichte Geschichte zu formen“.
Das neueste Werk der Hamburger Comic-Künstlerin Birgit Weyhe beginnt im Mittleren Westen, wo sie an einem US-College unterrichtet. Sie fühlt sich fremd. Zudem wird ihr auf einer Germanist*innen-Tagung vorgeworfen, in ihren Comics kulturelle Aneignung zu betreiben. Wieder zurück in Berlin trifft sie für ein Interview Priscilla Layne, eine afroamerikanische Germanistik-Professorin mit karibischen Wurzeln. Diese ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, wird in jungen Jahren sexuell missbraucht, rebelliert gegen Geschlechterrollen und schließt sich der antirassistischen Skinhead-Bewegung an. Weyhe ist fasziniert von ihr und fragt Layne, ob sie ihre Lebensgeschichte in Comicform erzählen darf. Layne fungiert dabei als Korrektiv, die jedes Kapitel prüfte. In der Graphic Novel sind Laynes Anmerkungen zum vorhergehenden Kapitel jeweils in Zwischenkapiteln eingefügt. Mit Rude Girl hat Weyhe „einen vielschichtigen Comic über eine Schwarze Germanistik-Professorin gezeichnet – und darüber, dass Schwarze Identitäten so divers sind, wie die Identitäten jeder anderen Gruppe von Menschen“, so Andrea Heinze auf rbbKultur. Weyhe wurde im Rahmen des Comicbuchpreises 2021 der Berthold Leibinger Stiftung ebenfalls als Finalistin nominiert.