Umwelthauptstadt Europas
Grün, grüner, Lissabon?
Seit 2010 verleiht die Europäische Kommission den Titel „Grüne Hauptstadt Europas“. In diesem Jahr darf sich Lissabon so nennen: Denn die portugiesische Hauptstadt setzt in jüngster Zeit auf mehr öffentliche Verkehrsmittel, die Reduzierung von Wasser- und Energieverbrauch und den Ausbau der Grünflächen. Aber reicht das, um die Umwelthauptstadt Europas zu sein?
Von Tilo Wagner
Auf den Straßen Lissabons staut sich im April 2020 kein Verkehr mehr, nur rund ein Prozent der Flugzeuge landet täglich auf dem stadtnahen Flughafen, am neu gebauten Kreuzfahrtterminal legt kein Schiff mehr an. Durch die Folgen der Corona-Pandemie ist die Luftverschmutzung in Lissabon um 80 Prozent zurückgegangen – eine drastische Abgasreduzierung, die Umweltschützer und Anwohner eigentlich glücklich stimmen könnte, wäre sie nicht das Ergebnis eines beispiellosen Shutdowns, um die Verbreitung der Atemwegserkrankung Covid-19 aufzuhalten, mit unabsehbaren wirtschlichen und sozialen Folgen für Lissabon, für Portugal und für die ganze Welt.
Weniger Autos, mehr Umwelt
„Es sind natürlich außergewöhnliche Zeiten“, sagt Francisco Ferreira, Präsident der Umweltschutzorganisation Zero. „Dennoch müssen wir diese Chance nutzen. Wenn die Wirtschaft wieder anläuft, sollten wir sofort Maßnahmen ergreifen, um den Verkehr in Lissabon langfristig einzuschränken.“ Tatsächlich wollte die Lissabonner Stadtverwaltung ab Juni einen Teil der großen Flaniermeile Avenida da Liberdade und die engen Gassen der Unterstadt „Baixa“ und des Chiado-Viertels für Fahrzeuge mit Diesel- und Benzinmotor sperren und damit den Verkehr in der Altstadt (40.000 Autos am Tag vor der Corona-Krise) drastisch reduzieren. Das Vorhaben ist eines der Vorzeigeprojekte, mit denen Lissabon die Auszeichnung „Umwelthauptstadt Europas“ zu rechtfertigen versucht.
Alternative Mobilitätsangebote
Dahinter steht auch ein allgemeines Umdenken in der Lissabonner Stadtverwaltung. Der jahrelange Sparkurs, der auch auf Druck der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds in der Zeit der portugiesischen Staatsschuldenkrise zwischen 2011 und 2014 durchgesetzt worden war, hatte zuvor im öffentlichen Nahverkehr tiefe Spuren hinterlassen: Selbst für die Instandhaltung der Busse und U-Bahn-Züge hatte das Geld gefehlt, weshalb immer weniger Fahrzeuge in Betrieb waren und die Zahl der Fahrgäste deutlich zurückging.
Mit der Einführung einer einheitlichen, wesentlich preiswerteren Monatskarte für den gesamten Großraum Lissabon gelang im Jahr 2019 die Kehrtwende. Dazu investiert die Stadt in 100 neue Busse, 30 davon mit elektrischem Antrieb. Auf den ersten Strecken fahren bereits E-Busse. Für den Stadtrat für Mobilität, Miguel Gaspar, ist der Titel „Umwelthauptstadt Europas“ deshalb vor allem ein großer Ansporn: „Wir wissen, dass wir die Auszeichnung vor allem als Anerkennung für unsere Bemühung erhalten haben. Aber das ist nicht das Ende, sondern der Beginn unserer Arbeit. In den nächsten zehn Jahren wollen wir beweisen, dass wir einen sehr schnellen Wandel hinkriegen.“
Die Stadt hat sich das Ziel gesetzt, bis 2035 den CO2-Ausstoß um 55 Prozent zu senken. Und sie setzt deshalb auch auf andere Verkehrsmittel, die bisher vernachlässigt wurden: Vor ein paar Jahren gab es fast keinen einzigen Fahrradweg in der Stadt. Jetzt soll ein 200 Kilometer langes Streckennetz entstehen.
Mehr Bäume, bessere Wasserwirtschaft
Auch in anderen Bereichen verändert sich Lissabon: Im Verlauf des Jahres 2020 sollen 100.000 neue Bäume im Stadtbereich gepflanzt werden. Grüne Korridore werden angelegt, die den riesigen Stadtpark Monsanto im Westen an das Stadtzentrum anbinden sollen. Und die ehemalige offene Kläranlage in Alcântara ist in ein modernes Wasserwerk umgewandelt worden: Unter einem drei Hektar großen Garten wird das Abwasser so aufbereitet, dass es nicht nur für die Straßenreinigung, für das Bewässern der städtischen Gärten oder für den industriellen Konsum verwendet werden kann, sondern sogar zur Herstellung des Craft-Biers „Vira“.
Noch ein weiter Weg zur grünen Großstadt
Dennoch bestehen Zweifel, ob Lissabon die Wende zu einer grünen Großstadt wirklich schafft. Vor der Corona-Krise fuhren an jedem Werktag rund 370.000 Autos nach Lissabon ein. Die Portugiesen würden dem Auto immer noch einen sehr hohen Stellenwert zumessen, sagt Mobilitätsexperte David Vale von der Universität Lissabon: „In anderen Ländern Europas sind die Bürger auch vom Auto fasziniert, aber die Politik hat auf den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel gesetzt. Das war in Portugal nicht der Fall. Der Zustand des öffentlichen Verkehrswesens hat sich immer weiter verschlechtert, und anstatt von der Politik einen besseren Service zu fordern, haben sich die Portugiesen ein Auto gekauft. Dadurch hat sich auch das Profil der Fahrgäste verändert. Vor dreißig Jahren sind auch Portugiesen aus der Mittelschicht Bus und Bahn gefahren. Heute scheinen die öffentlichen Verkehrsbetriebe das Transportmittel der sozial schwächeren Bevölkerung zu sein. Hierin ähnelt Portugal eher den USA als anderen europäischen Ländern.“
Problemfall Tourismus
Das aktuelle Programm der Umwelthauptstadt Europas präsentiert zudem keine nachhaltigen Lösungsansätze für ein drängendes Problem. Der Tourismus ist zum treibenden wirtschaftlichen Motor im Großraum Lissabon geworden: Der Sektor ist verantwortlich für 20,3 Prozent der Wirtschaftsleistung und über 200.000 Jobs. Über 10 Millionen Touristen zählte die portugiesische Hauptstadt im Jahr 2019 – und das spült kräftig Geld in die Kassen der Stadtverwaltung, seit Lissabon von jedem Besucher eine Abgabe von 2 € pro Übernachtung verlangt. Im Haushalt von 2019 rechnete die Stadt bereits mit direkten Einnahmen von 36,5 Millionen Euro. Diese Abhängigkeit vom Tourismus beeinflusst auch die politischen Entscheidungen.
Die Stadt hat zwei große Investitionsprojekte unterstützt, die von Umweltschützern heftig kritisiert werden. Im November 2017 wurde ein neues Kreuzfahrtterminal unterhalb des Alfama-Viertels eingeweiht, der die Kapazität der Stadt von 500.000 auf 800.000 Gäste pro Jahr erhöhte. Die Folge: Laut einer Studie der Umweltschutzorganisation Zero ist Portugal in Europa das Land mit dem sechsthöchsten Anteil von Schwefeloxiden, die von den Kreuzfahrtschiffen ausgestoßen werden.
Umstritten ist auch der Ausbau des Lissabonner Flughafensystems. Die sozialistische Regierung hat sich für den Neubau eines Flughafens östlich von Lissabon in Montijo stark gemacht. Der Airport soll am Rande eines der größten Vogelschutzgebiete Europas entstehen. Gleichzeitig soll der Lissabonner Stadtflughafen, der sich nur sechs Kilometer nördlich des historischen Stadtzentrums befindet, weiter ausgebaut werden. „Der massive Ausbau des Lissabonner Flughafensystems ist mit den Ideen der Grünen Hauptstadt Europas nicht vereinbar“, sagt Umweltschützer Ferreira. „Dieses Projekt gefährdet die Einhaltung der Klimaziele und bringt noch mehr Luftverschmutzung und Lärm mit sich.“
Die Corona-Pandemie hat den Tourismus jetzt hart getroffen. Unter Klimaschützern und Umweltaktivisten in Portugal macht sich deshalb die Hoffnung breit, dass wirtschaftliche und ökologische Interessen bei der langsamen Rückkehr zur Normalität besser miteinander in Einklang gebracht werden können. Davon könnte auch die Umwelthauptstadt Lissabon profitieren.