Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Schreiben gegen die Unmenschlichkeit: Margaret Atwood und Deutschland
Jedes Jahr werden während der Frankfurter Buchmesse, der größten Buchhandelsmesse der Welt, zwei der wichtigsten deutschen Literaturpreise vergeben. Während mit dem Deutschen Buchpreis nur Werke in deutscher Sprache ausgezeichnet werden, wird der Friedenspreis des deutschen Buchhandels auch international verliehen. Margaret Atwood war in der Vergangenheit bereits Gast der Frankfurter Buchmesse, in diesem Herbst jedoch kann sie als Preisträgerin des hoch angesehenen Friedenspreises zurückkehren.
Margaret Atwoods „politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen“ hat die Jury tief beeindruckt. Ihr Werk zeigt, wie fragil unsere scheinbare Normalität ist – und wie schnell sie in Brutalität umschlagen kann (hier finden Sie die vollständige Begründung der Jury). Jedem von Atwoods Büchern geht eine gründliche Recherche voraus, sodass ihre Erzählungen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, stets auf historische Begebenheiten verweisen. Dies mag ein Grund sein, warum Atwoods erfolgreichster Roman, Der Report der Magd, zurück auf den Bestsellerlisten ist, 32 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung 1985 (in Deutschland 1987), und warum er, zusammen mit Büchern wie Das Herz kommt zuletzt, ein Kommentar auf die Gegenwart zu sein scheint.
Eine „Prophetin der Dystopie“ und „heitere Schwarzseherin“ nennt The New Yorker sie in einem kürzlich erschienenen Artikel; und obwohl sich die USA noch nicht in Gilead (der fiktive U.S.-amerikanische Nachfolgerstaat in dem Der Report der Magd spielt) verwandelt haben, erkennt Atwood Ähnlichkeiten: „Es ist die Wiederkehr des Patriarchats“, sagt sie über die Regierung Trump. Dennoch stellt die Autorin aus Toronto in einem Essay für die New York Times klar, dass Der Report der Magd keine Vorhersehung, sondern viel mehr eine Antivorhersehung sei, denn die Zukunft könne nicht vorausgesehen, nur vorgestellt werden, in der Hoffnung, dass sie in dieser Form nie eintrete. Der Report der Magd hat jedoch eine historische Grundlage.
1984 lud der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) Atwood für einige Monate ins damals noch geteilte Deutschland nach Westberlin ein. Die unmittelbare Nähe zur DDR und die Fragilität der politischen Situation waren greifbar – in ihrer Wohnung in der Helmstedter Straße hörte Atwood das Knallen, wenn die ostdeutsche Luftwaffe bei Übungsflügen nahe der Grenze die Schallmauer durchbrach. An diesem Ort begann Atwood ihren wohl bekanntesten Roman, Der Report der Magd, zu schreiben. Zu dieser Zeit bereiste sie auch die DDR, die ehemalige Tschechoslowakei und Polen. Die Erfahrungen und Geschichten, die ihr dabei berichtet wurden, beeinflussten ihr Schreiben entscheidend. „Ich erlebte die Vorsicht, das Gefühl, bespitzelt zu werden, das Verstummen, die Themenwechsel, die verborgenen Wege auf denen Informationen übermittelt werden konnten; all dies hatte einen Einfluss auf das, was ich schrieb“, erinnert sich Atwood in ihrem Essay für die New York Times.
Den ersten Entwurf schrieb sie mit der Hand, dann tippte sie ihn mit einer deutschen Schreibmaschine ab, die sie sich geliehen hatte. Zusammen mit vielen weiteren Materialien aus ihrem literarischen Vorlass gab sie das Manuskript später an das Archiv der University of Toronto. Atwood zog sich nicht völlig in ihre Wohnung zurück, denn Berlin war für sie auch der perfekte Ort um ihr Deutsch anzuwenden, das sie in der Schule und der Universität gelernt hatte. Die Berliner Bevölkerung hat Atwood als sehr humorvoll in Erinnerung, und vor allem Wortspiele halfen ihr, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Bis heute sei eines ihrer deutschen Lieblingsworte „Fußpilz“ (engl. athlete’s foot) dessen wörtliche Übersetzung ins Englische stets für Erheiterung sorgt, verrät sie Lars von Törne im Tagesspiegel. Im Juni 1984 verließ Atwood Berlin und kehrte nach Kanada zurück, drei Jahre später kam sie jedoch bereits wieder nach Deutschland, um ihr Buch Der Report der Magd auf der Frankfurter Buchmesse vorzustellen. In Deutschland ist der Roman sehr erfolgreich – über eine Million Exemplare wurden bereits verkauft.
Derzeit lässt eine amerikanische Serienverfilmung den Stoff neu aufleben, als Erster verfilmte jedoch Volker Schlöndorff den Roman in den späten 80er Jahren. Atwood kam zur Premiere bei der Berlinale 1990 und wurde begeistert empfangen. Der Fall der Berliner Mauer lag erst wenige Monate zurück und der Film wurde zweimal gezeigt: einmal im Osten und einmal im Westen. Die Reaktionen des Publikums unterschieden sich sehr, erinnert sich Atwood im Gespräch mit The Globe and Mail Journalist Simon Houpt: „In Westdeutschland sprach man vor allem über die Ästhetik und die Regie sowie über die Farbwahl und die Biografien und so. In Ostdeutschland haben die Zuschauer den Film sehr aufmerksam verfolgt. Danach sagten sie: ‚So war unser Leben‘, und meinten damit das Gefühl, dass man niemandem trauen konnte.“
Bis heute ist Margaret Atwood die bekannteste und am meisten gelehrte kanadische Autorin in Deutschland. Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels unterstreicht nicht nur die Tragweite ihres Werks für deutsche Leserinnen und Leser während der vergangenen Jahrzehnte, sondern auch ihre internationale Bedeutung sowie die nach wie vor aktuelle Wichtigkeit von Menschlichkeit, Toleranz und Aktivismus.