Rock, Pop, Hip-Hop, Electro: jeder Monat beginnt mit einem Schlaglicht auf die Studios und Clubs zwischen Kiel und Weilheim. Gemeinsam mit Zündfunk, dem Szenemagazin des Bayerischen Rundfunks, präsentieren wir Neues abseits der Charts. Qualitäts-Pop made in Germany, auch im Abo zum Herunterladen.
Aktuelle Ausgabe
...jetzt im Regionalmagazin der Goethe-Institute Nordamerikas, „Gegenüber“.
I’m lost baby I’m lost
Post War, post punk and double crossed
Kreidler, „Loisaida Sisters“ (feat. Khan of Finland)
Ein neues Golden Diskó Ship-Album ist wie das neue Buch einer Lieblingsautorin. Man kann der überschäumenden Kreativität von Mastermind Theresa Stroetges jederzeit trauen, aber was genau sie in ihrem durch die Koordinaten elektronischer Musik einerseits und Pop andererseits abgegrenzten Universum zusammenmischt, gelingt auch auf Oval Sound Patch wieder zur Überraschung. Catchy ist es geworden, und wer bisher noch nicht mit ihrer Arbeit vertraut war, findet hier einen guten Startpunkt. Es ist ein Album über das Vorwärtskommen, den Wechsel und die Zukunft. Obwohl sie die Verspieltheit ihrer früheren Alben (dieses ist das fünfte) nicht verloren hat, wirken diese neuen sechs liebevoll komponierten Tracks ausgereift und hymnisch. Ein Album wie ein Bündel Sonnenstrahlen.
Die Rückkehr des Rock! Nach dem relativ experimentellen Comeback-Album Die Gruppe, das eine eher introvertierte, kontemplative Geschichte war, zeigen Ja, Panik auf Don’t Play With The Rich Kids, dass sie noch Gitarrenriffs, gerufene Parolen, Orgeln und Bläsersätze können. Das Quartett um den Wiener Allround-Künstler Andreas Spechtl zeigt sich in ausgezeichneter Form und richtet ihren Blick nach vorn. Der spöttische Blick auf eine zerstörte Welt hat einem angenehmen Kampfgeist Platz gemacht, wie zum Beispiel die Antifa-Hymne Fascism is Invisible (Why Not You) beweist. Schön, dass es sie noch gibt.
Weißt du, da kämpft
wer eintausend Kämpfe in mir drin
Und
Keinen einzigen kann
ich gewinnen
Ja, Panik, „Kung Fu Fighter“
Kreidlers jahrzehntelange Arbeit an den unscharfen Grenzen von minimalem postmodernem Pop, Kraut-Dub und beschwingtem Mensch-Maschine-Groove beendet auf Twists (A Visitor Arrives) eine weitere Etappe auf ihrer Reise in das Innere der Musik. Das Album geht wie die von Golden Diskó Ship so schön beschriebene Well-Oiled Machine auf eine Reise ohne genaues Ziel und mit wechselnden Tempi, sie erzählen keine skandalträchtigen Geschichten, sondern sie erzählen von Zuständen, Wegen, Ideen. Der Weg ist das Ziel.
Toechter waren schon immer etwas anders. Aber mit ihrem zweiten Album gelingt ihnen die Emanzipation ihres engen Kammerpop-Konzepts zu einem ganz eigenen Entwurf wunderschöner Popmusik voll entrückter Melodien, verhallter Stimmen und einem Himmel voller Geigen. Katrine Grarup Elbo, Lisa Marie Vogel und Marie-Claire Schlameus nehmen auch auf Epic Wonder wieder ihre Streichinstrumente (Violine, Viola, Cello) als Startpunkt der Kompositionen, was aber im fertigen Mix weniger offensichtlich ist und zu einem wesentlich balancierteren, reiferen und ausgearbeiteten Gesamteindruck ihrer Arbeit führt als noch bei ihrem Debut.
Überlange, instrumentale Kompositionen, die in epischer Breite auf eine fulminante Auflösung hinarbeiten, sind das Markenzeichen der Berliner Post-Noise-Rocker Zahn. Das Trio, angeführt vom Tourkeyboarder der Einstürzenden Neubauten Felix Gebhard zeigt auf seinem zweiten Album Adria weniger von dem knochentrockenen Math-Metal ihres Debuts, sondern setzen auf Vielseitigkeit, von den Tupfen der Surfgitarre bis zu den immer wieder auftauchenden Keyboardwänden, die den sehr strukturierten Tracks eine Emotionalität verleihen, die sie von der Konkurrenz absetzt.
I’m weak, weaker, weaker, strong
I’m close, closer, closer, far
Oum Shatt, „Play“
Bei Nennung des Begriffs „A8“ kommt den Deutschen eine der wichtigsten Ost-West-Achsen des Landes in den Sinn, die berühmte, aber wegen ihrer Unfallgefährlichkeit auch berüchtigte Autobahn Nr. 8. Der Name A08, das erste Projekt, das wir im Popcast des neuen Jahres vorstellen, ist aber trotz des nicht verkennbaren Verbindungselements des Berliner Duos nicht von seinem Autobahn-Namensvetter, sondern ist eine Abkürzung ihres Vorgängerprojektes Africaine 808 inspiriert. Die Referenz funktioniert dennoch. Dirk Leyer und DJ Nomad arbeiten mit Künstler*innen aus Ghana, Kolumbien, Kenya und Deutschland, um ihr elektronisches Weltmusik-Projekt zum Leben zu erwecken. Die entstandene Mischung aus Reggae, Jazz, karibischer Folklore und Elektro, die jetzt auf dem Münchner Downbeat-Label Compost unter dem Titel Waiting for Zion erschienen ist, besticht durch ihre Vielseitigkeit, die aber zugleich auf Albumlänge ihre Schwäche darstellt: A08 sind am besten dann zu genießen, wenn man jedes Stück für sich betrachtet.
Die Avant-Pop-Künstlerin Mary Ocher blickt auf eine äußerst bemerkenswerte und abwechslungsreiche Discographie zurück, und wendet sich auf ihrem neuesten Album Approaching Singularity: Music For The End Of Time konsequent der elektronischen Musik zu. Die In Tel Aviv aufgewachsene und seit vielen Jahren in Berlin ansässige Künstlerin hat begleitend zum apokalyptischen Titel ihres Werkes ein beiliegendes Essay produziert, in dem sie die Zukunft der Menschheit in einer von autoritären Tendenzen, politischen Extremen und wuchernden Technologien gebeutelten Welt reflektiert. Ihre so starke wie polarisierende Stimme engagiert sich in Debatten über Autorität, Identität und Konflikt und lässt ihre Visionen einer besseren Zukunft weit über ihre Musik hinauswachsen.
Auf Visionäre Leere beschäftigt sich die „dissidente Popmusikerin“ Bernadette LaHengst ebenfalls mit zukunftsweisenden Fragen. Klima- und Strukturwandel, Krieg und Politik sind ebenso Themen wie ihre eigene Mutter-Tocher-Beziehung. Auf ihrer neuen Single Gib‘ mir meine Zukunft zurück überlässt sie dann auch ihrer 19-jährige Tocher Elle Mae (Hengst) gesanglich den Refrain. Das Ergebnis ist eine weitere der optimistisch-kämpferischen Pophymnen, für die Bernadette LaHengst bekannt wurde, seit sie in den frühen 90er Jahren als Sängerin und Gitarristin der Hamburger Popband Die Braut Haut ins Auge die deutsche Musikszene betrat. Quasi im Alleingang hat LaHengst ihren souligen Pop so kompetent komponiert, eingespielt und produziert, so dass man ihr textliche Schwächen und cringy Rap-Einlagen verzeihen mag. Ob allerdings die auf den Pressebildern stolz vorgezeigte Vox Apache Reisegitarre überhaupt auf dem Album zu hören ist, mag bezweifelt werden, denn mehr noch als bei früheren ihrer Produktionen scheint musikalische Perfektion das Ziel gewesen zu sein.
And we had so many plans
Leap from the sill, see where we land
Beirut, „So Many Plans“
Santa Fes Zack Condon aka Beirut, mittlerweile in Berlin ansässig, ist bereits seit 2006 eine gute Adresse für Indie-Folk mit Elementen aus Weltmusik und Jazz. Als er sich im Jahre 2019 auf der Suche nach Ruhe für eine Zeit auf einer Insel im norwegischen Hadsel einmietete, entdeckte er in dem von ihm gemieteten Haus eine „Pump-Orgel“, und die zur Inspiration des Sounds für seine neue Produktion wurde. Zurück in Berlin musste er sich pandemiebedingt einschließen und konnte in aller Ruhe, und wie schon bei seinem ersten Album vor fast 20 Jahren in bewährter DYI-Manier ganz alleine, das nach Hadsel benannte Album fertig produzieren. Natürlich ist es großartig geworden, voll kontemplativer Ruhe und wunderschönen organischen Sounds der Instrumente aus der außergewöhnlichen Sammlung des Künstlers sowie seinem charakteristischen Bariton.
Großes kündigt die deutsche Supergroup Oum Shatt an, immerhin sechs Jahre nach dem Erscheinen ihres fantastischen Debuts Gulag Orkestra. Amerikanischer Surf, griechischer Rembetiko, No Wave und diverse orientalische Einflüsse sind die Eckpfeiler ihrer neuen Songs, die am 26. Januar erscheinen werden. Angeführt vom mantraartigen Gesangspassagen von Singer und Songwriter Jonas Poppe und mitunter wilder Percussion von Schlagzeuger Chris Imler schaffen sie trotz der vielfältigen Einflüsse wieder einen ganz eigenen Sound. Ein starker Anfang für ein Jahr, das sicherlich nicht ganz einfach wird.
Doch was vor mir liegt
Ist meine eigene Einsamkeit
Und ich denke manchmal,
dass wir auseinander gehen
liegt doch auch daran,
dass wir uns so gut verstehen
Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs „Von Haus aus allein“
Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs war eine Schlagzeile des Mutterschiffs der deutschen Yellow Press, der Bild-Zeitung und dann, 1991, mit diesem einen gewissen Hang zur Ironie signalisierenden Bandnamen, zu einer der ersten Bands der gerade aufkeimenden sogenannten „Hamburger Schule“ zu werden. Das war die deutsche Antwort auf Lo-Fi und Generation X, und brachte ein Vielzahl sehr interessanter Band zutage, von denen die Ostzonensuppenwürfel eine der ersten und interessantesten waren. Jetzt, zum 25. Jahrestag des Erscheinens ihres fünften und letzten Albums Leichte Teile, Kleiner Rock von 1998, rückt das Hamburger Label Tapete sie wieder ins Rampenlicht und veröffentlicht die Vinylversion des Albums, das damals nur auf CD erschienen war.
Aus Leipzig kommen Hotel Rimini, die mit Allein unter Möbeln gerade ihr erstes Album veröffentlicht haben. Die introvertierten deutschsprachigen Chansons des Sextetts sind für kontrastreiche Arrangements mit klassischen Streichinstrumenten wie Violine, Cello und Kontrabass aber auch den typischen Bandinstrumenten Klavier, Gitarre und Schlagzeug geschrieben. Die kämpferische Melancholie der Texte von Sänger Julius Förster, in denen es um moderne persönliche Phänomene wie gespielten Idealismus oder künstliche Selbstdarstellung geht, sind das Gegenwartselement der zeitlosen Songs und verliehen ihnen aktuelle Relevanz.
The world is full of lonely people
Afraid to make the first move
It’s the hardest part
Kiki Bohemia „Lonely People“
Kiki Bohemia, mit bürgerlichem Namen Karla Wenzel, hat stolze 15 Jahre gebraucht, um ihrem fantastischen Debutalbum All the Beautiful einen Zweitling folgen zu lassen. Doch die Wartezeit hat sich gelohnt. Die psychedelischen Folk-Miniaturen der Berlinerin haben ihre morbide Düsterkeit behalten, wirken jetzt aber reifer und ausgefeilter. Nur selten brechen Synthesizer-Arpeggios durch die atmosphärischen Flächen, und Percussion fehlt weitgehend auf Those Are Not Songs; vielmehr gibt sich Kiki Bohemia viel Raum für große Melodien und ihren mal ganz intimen, direkten und dann wieder grandiosen und distanzierten Gesang, wie beispielsweise bei der äußerst gelungenen Coverversion von Nicos Frozen Warning.
Auf 300 Compilations sind wie vertreten, haben über 100.000 Alben verkauft und sind bereits seit fast 30 Jahren im Geschäft. Vermutlich hat jede*r schon einmal einen Song von Boozoo Bajou gehört, und erinnert sich vermutlich nicht mehr daran, zu flüchtig wirken bisweilen die zurückgenommenen Sound-Texturen der Münchner. Zu Unrecht: Ihr entspannter, mit Elementen von Blues, Jazz, Soul und Latin gefärbter Elektroniksound enthält, im Gegensatz zu vielen eher farblosen Downbeat-Produktionen, eine Vielzahl an geschmackvollen Referenzen an ein weites Spektrum der Popkultur, wie zum Beispiel der häufig vorhandene Hauch von Dub Techno, der den Arbeiten Spannung verlieht und ihr Abgleiten in die Belanglosigkeit verhindert.
Auf ihrem neuen Album Flow haben sich die Gebrüder Andi und Hannes Teichmann mit ihrem Vater zusammengetan, und liefern als Teichmann & Söhne den Beweis dafür, dass generationsübergreifende Projekte auch ohne Klischees funktionieren. Das Album ist entstanden aus Aufnahmen von Probesessions in den Jahren 2012 bis 2022, in denen die improvisatorische Kraft des Vaters, dem Jazzmusiker Uli, mit den Dub-Techniken und den modularen Synthesizer-Sounds der beiden jüngeren Teichmänner aufeinandertreffen. So harmonisch ging es in der Familie allerdings nicht immer zu – in jüngeren Jahren rebellierten Andi und Hannes gegen den jazzigen Freigeist des Vaters und gründeten eine Punkband, gefolgt von den gradlinigen Technoproduktionen, zum Beispiel für das Kölner Kompakt-Label, für die die Gebrüder Teichmann bekannt geworden sind. Doch jetzt kommen die Generationen zusammen und liefern ein überzeugendes Beispiel dafür ab, wie spannend sich unterschiedliche Ansätze künstlerischen Schaffens ergänzen können.
Helena Ratka aka Pose Dia erzeugt in ihrem zweiten Album Simulate yourself eine außerirdische Atmosphäre, begleitet von poetischen Lyrics und abstraktem Elektro-pop. Der dunkel-rauchige Sprechgesang wird von zart schmelzenden Melodien und innovativem Electrosound unterlegt, was Helenas Tätigkeit als DJ verrät: Seit einigen Jahren ist sie schon Residentin in Hamburgs renommiertem Pudel Club. Zusammen mit Sophia Kennedy veröffentlichte sie unter dem Namen Shari Vari 2019 das tolle Album NOW. Auch ihre Arbeit als Filmemacherin und visuelle Künstlerin spiegelt sich in ihren musikalischen Produktionen wider: Das Musikvideo zu Feuer erinnert an apokalyptische Science-Fiction-Szenen.
Trotz der verschiedenen Hauptberufe der Bandmitglieder von F.S.K. aka Freiwillige Selbstkontrolle sind Kunsthistoriker Hoffmann, Schriftsteller Meinecke, bildende Künstlerin Melián und Fotograf Petzi der Band treu geblieben, die seit 1980 noch immer in Originalbesetzung spielt. Der Diskurs-Pop mit viel Witz und Schläue machte auch außerhalb Deutschlands auf sich aufmerksam. John Peel erklärte F.S.K. zu seiner deutschen Lieblingsband und so waren sie auch eine der wenigen Bands aus Deutschland, die eine Peel Session bei der BBC aufnehmen durfte. In ihrem neusten Album beschreibt der Titelsong Topsy Turvy mit chaotischen Sprachbildern und Sounds eine verkehrte Welt, denn F.S.K. scheuen nicht vor Verwirrung und kulturellen Brüchen zurück.
Drei Ja
hre nach der Veröffentlichung seines letzten Albums Andere, ist Max Rieger alias All diese Gewalt am 10. November mit einem neuen Album Alles ist nur Übergang zurück. In Max Soloprojekt kommt seine sanfte Seite zum Vorschein: Während er normalerweise als Gitarrist und Sänger für die Nerven auf der großen Bühne steht, klingen seine eigenen Produktionen eher ruhig und poetisch. Auch außerhalb des Rampenlichts ist Max Rieger erfolgreich und verdiente sich mit Soundtracks zu Filmen, wie Berlin Alexanderplatz oder Produktionen für Drangsal, Ilgen Nur und Mia Morgen, den Titel des deutschen Rick Rubin.
Weißt du grade, wer du bist?
Isabelle Pabst, „Alice”
Die Kölner Musikerin Isabelle Pabst verbringt schon seit den Kroatienurlauben ihrer Kindheit gerne Zeit im Wasser, genauer gesagt unter Wasser. Beim Tauchen kann sie entspannen, sich auf ihre Gedanken konzentrieren und alle Hektik ausblenden. So ist das Wasser nicht nur auf dem Cover ihres neuen Albums Als die Stille aus der Zeit fiel, sondern auch in den mystischen, ruhigen und experimentellen Klängen ihrer Musik präsent. Ihre Songs kreieren eine geheimnisvolle, nächtliche Atmosphäre, deren einzelne Spuren die selbsternannte Perfektionistin in zahllosen Nächten teils dutzende Male aufgenommen hat, bis sie endlich zufrieden war.
Spirit
Fest ist eine Supergroup, zu der sich die Künstler*innen Markus und Micha Acher (The Notwist), Mat Fowler und die Bands Tenniscoats und Aloa Input zusammengeschlossen haben. Das japanische Avant-Psychedelic-Folk-Duo Tenniscoats entdeckte Acher im Rahmen einer Japan-Tour und war direkt von ihrem Klangkosmos begeistert. Sie versammelten sich im Jahre 2016 beim Münchner Alien Disko Festival und entschlossen sich zu dem gemeinsamen Projekt. Auf ihrem jetzt erschienenen vierten Album kommen die verschiedenen Charaktere der transnationalen Gruppe zum Vorschein: Die englischen und japanischen Songtexte werden mit melancholischen, übernatürlichen und tröstlichen Tönen untermalt, Gitarrenpop sanft mit Klavier und Elektronik ausgeschmückt. Ein Kleinod des versponnenen Folk-Pop.
[Tout faire sauter !] Die Türen, « Grunewald is Burning »
Für deutsche Verhältnisse kann man bei Bandmitgliedern wie Maurice Summen, Chris Imler und Andreas Spechtl (Ja Panik) bei Die Türen durchaus von einer Supergroup sprechen. Die Band, die gleichzeitig eine Plattenfirma ist, nämlich staatsakt, das beste, oder sagen wir diplomatisch eines der besten Labels des Landes, ist mittlerweile seit 20 Jahren im Musikbusiness und kündigt mit Kapitalismus Blues Band jetzt ihr sechstes Album an. Wie der Name und die dazugehörige Videoauskopplung Grunewald is Burning (siehe unten) vermuten lassen, feiern auch hier die Türen mit ihrem typischen lakonischen Humor voller Begeisterung die Apokalypse. Kantig und voll funky-er No Wave-Energie und im nervösen AI-generierten Schnipsel-look ein würdiger Vorbote auf ein weiteres Meisterwerk aus dem Hause Türen/staatsakt.
Ebenfalls in apokalyptischer Stimmung befinden sich Erregung Öffentlicher Erregung auf Speisekammer des Weltendes, ihrem zweiten Album. Ihr gradliniger Post Punk, eine perfekte Wiederbelebung der „Neuen Deutschen Welle“ der 1980er Jahre erinnert nicht zuletzt textlich an die Band Ideal, damals die größten Superstars der jungen deutschen Musikszene. Sängerin und Texterin Anja Kasten zeigt sich in absoluter Hochform, ob es nun um französische Speisen oder ihre Haare geht. Geschickt und mit viel sarkastischem Humor nutzen EöE das Alltägliche als Vehikel für die größeren Themen des Heute.
Gradliniger, wütender No Wave Punk kommt vom Trio Berliner Doom, deren Debutalbum Wer das hört ist Doom mit immerhin 12 Songs gerade mal 8 Minuten in Anspruch nimmt – einige sind noch nicht mal 30 Sekunden lang. Jede Idee wird, musikalisch wie textlich angerissen, kurz skizziert und dann ist der Song auch schon vorbei. Umwege oder Kompromisse kennt die Band offenbar nicht, und das ist auch vollkommen in Ordnung so.
Je vous French Kiss
Avec la langue de Molière
Chilly Gonzales, « French Kiss »
Der kanadische Weltbürger Jason Beck alias Chilly Gonzalez nennt zur Zeit das deutsche Köln sein Zuhause, gibt sich aber auf seinem neuen Album French Kiss frankophil. Kein Wunder, hat er doch zuletzt einige Jahre in Paris gelebt. Der begnadete Pianist und Songwriter hat eine Sammlung skurriler bis romantischer Neo-Chansons zusammengestellt, die man nebenbei auch hier in Montreal Gelegenheit haben wird live zu erleben. Er ist Mitte Oktober im Théâtre Rialto zu Gast. Allerdings sollte man sich schleunigst um Karten bemühen – zwei der drei geplanten Shows sind bereits ausverkauft.
Die vielköpfigen (wir haben 8 gezählt) Artur & Vanessa sind aus einem Literaturprojekt entstanden. Moritz Krämer und Francesco Wilking von der Band Die Höchste Eisenbahn schickten sich Textstücke hin und her, und mussten nach einiger Zeit feststellen, dass sich die Geschichte der beiden Protagonist*innen, (Überraschung…) Artur und Vanessa, die um ein Haar in einem Freizeitpark ihr Ende finden, eher für ein Konzeptalbum als für ein Buch eignen. Nach kurzer Suche fand sich eine Supergroup mit Mitgliedern von CATT, AnnenMayCantereit und anderen zusammen, die aus der skurrilen Geschichte ein opulentes, verträumtes, wunderschönes Popalbum mit einer Menge Soul gemacht haben.
Everything is going wrong
But I really love this song
Lobsterbomb, „I Love This Song“
Die mongolische Jazzsängerin Enji hat ihr drittes Album Ulaan in Unterföhrings Mastermix Studio für das einzigartige Münchener Squama-Label aufgenommen. Wie schon beim Vorgängeralbum Ursgal, vereinen die vorwiegend ruhigen Kompositionen traditionelle mongolische Musik, Sprache und Storytelling mit heutigem Folk und Jazz. Ihr Trio erweitert sie jedoch bei dieser Veröffentlichung um zwei brasilianische Musikerinnen an Klarinette und Schlagzeug, die das stilistische Spektrum auf überraschende und faszinierende Weise bereichern. Ein außergewöhnliches Werk voller Schönheit und Erhabenheit.
Der elektronische Folk von Vincent von Flieger hat zauberhafte Qualitäten. Das Quartett aus Nürnberg vermengt auf ihrem zweiten Album Mechanisms of Maximalism charmante Singer-Songwriter Kompositionen mit subtilen Flächen aus verfremdeten Blechbläsern, etherischen Chören, knochigem akustisch-elektronischem Schlagwerk und diversen Saiteninstrumenten. Die elf Songs, für die die Band insgesamt gerade mal 38 Minuten braucht, scheinen genau ihren Punkt zu treffen, alles wirkt durchdacht und präzise ausgeführt. Ein kleines, leicht zu unterschätzendes Meisterwerk, das hoffentlich trotzdem dort gehört werden wird, wo es verstanden wird.
Diese Stimme Kapital
Skuff Barbie, „Meine Freunde, eure Feinde“
Die musikalische Welt von Skuff Barbie aus Münster ist auf ihrem Debutalbum Passiflora, das kürzlich auf dem famosen 365XX-Label erschienen ist, zu bewundern. Mit ihrem deutschsprachigen Dancehall mit HipHop und R&B Einflüssen ist sie eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Musiklandschaft, und diese Rolle füllt sie mit enormem Selbstbewusstsein und großer künstlerischer Kompetenz. Ihr größtes Kapital, wie es auch in Meine Freunde, Eure Feinde treffend heißt, ist ihre Stimme, die scheinbar mühelos durch die kurzen und abwechslungsreichen Tracks schwebt und die Mischung der verschiedenen Musikrichtungen zu ihrem ganz eigenen Stil macht.
Garagenrock wie in alten Zeiten ist das Markenzeichen des Berliner Trios Lobsterbomb. Die schnittigen 3-Minüter ihres Debutalbums Look Out, das gerade –wenn man will, in rotem Vinyl– erschienen ist. Die kurzen geradlinigen Songs mit den häufig mehr gerufenen als gesungenen Texten rund um das wilde Partyleben der Band, den kratzigen Gitarren und den wütenden Drums bleiben gut im Ohr. Dabei wäre es ein Fehler, die Drei als spaßige Retro-Truppe abzutun – hinter der bunten Fassade verbirgt sich ein spannender künstlerischer Gegenentwurf zur doch aktuell recht konformistischen Poplandschaft, die sich durchaus lohnt ernst zu nehmen.
Aus Hamburg im Norden Deutschlands kommt das Trio Wareika, deren ausufernde, versponnene Downbeat-Nummern wie ein Echo vergangener Sommer wirken. Als hätten sich die zeitlebens an südeuropäischen Stränden gehörten Gitarrenimprovisationen schnipselweise in den Sampler gestohlen, um jetzt, Jahre später, auf Tizinabi neben soften Bassdrums, Klavieren und anderen Fundstücken aus der elektronischen Musikkiste gekonnt wieder zusammengesetzt zu werden. Und wie es sich gehört, gibt es neben den einzelnen Tracks auch den Album-Gesamtmix, denn beheimatet ist das Projekt auf dem schwer glaubwürdigen Berliner Afterhours-Label Ornaments.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich JJ Whitefield als Gitarrist, Produzent und Bandleader schon an mehrere Subgenres abgearbeitet. Die Produktionen des Innovators in der experimentellen Kraut-, Deep-Funk- und Neo-Jazz-Szene sind von zeitloser Qualität. Schon seit seinen Teenagerjahren ist er besessener Plattensammler. Nun erreicht er mit seinem Kraut-Jazz-Debüt für Kyptox Music eine neue Ebene: Das neue deutsche Label soll zeigen, was sich im wachsenden Neo-Jazz-Underground so alles bewegt und schafft es dabei, äthiopischen Jazz mit psychedelischem Funk zu verbinden.
Welcome to the groove religion
Come join the groove religion
Leave your problems at the groove religion
Things get better at the groove religion
Kosmo Kint, „Groove Religion“
Kosmo Kint schreibt Songs, die das übliche von Kummer geprägte Narrativ von Sängern innerhalb des Genres der soulgetriebenen Tanzmusik verändern: mit einer humorvollen Perspektive behandeln sie Lebenslektionen und legen den Fokus auf die einfachen Dinge. In New York geborene und aufgewachsene Kosmo Kint besuchte renommierte Kunst- und Musikhochschulen und teilte sich als Backgroundsänger bereits die Bühne mit Größen wie Elton John, Alicia Keys und Winton Marsalis. 2016 verließ Kosmo NYC und zog in den kreativen Schmelztiegel von Berlin, in dem er noch heute ansässig ist. Zusammen mit der Toy Tonics Crew verbindet er seine Sensibilität für amerikanischen R&B, Soul und Hip-Hop mit dem charakteristischen, warmen Disco- und House-Sound der Gruppe.
Palila war früher der Name des Schwarzmasken-Kleidervogels – und ist heute der, den sich Sänger, Songwriter und Gitarrist Matthias „Mattze“ Schwettmann und Bassist Christoph Kirchner für ihre gemeinsame Band ausgesucht haben, als sie diese 2019 gründeten. Mit Try To Fail Again veröffentlichten die Hamburger die zweite Single ihres im Mai erschienenen Albums Mind My Mind.
Die Single handelt davon, dass es in Ordnung ist, zu scheitern. Zwischen all der inhaltlichen Düsternis wird der Sound von tröstender Harmonie und Beschwinglichkeit getragen: Die Vertonung eines vorübergehenden Glücks und eines eigenständigen Indie-Rock-Hits.
Your bus is late again
While you’re yelling at some guy
Who rides his bike on the wrong side of the road.
Palila, „Try To Fail Again“
Wenn DJ Sepalot in einem Club auflegt, garantiert das nicht nur ein volles Haus, sondern auch ein musikalisches Feuerwerk, frei von künstlerischen Zwängen. Mit einer wilden Mischung aus Hip Hop, Jazz, Soul und Funk zieht er schon seit Anfang der Neunziger eine Schneise der Begeisterung hinter sich her. Bei seinem Solodebüt-Album verpasste er neun AC/DC-Klassikern einen neuen, elektrischen Anstrich und ging – auf Einladung des Goethe-Instituts – auf eine umfangreiche Tour durch den Nahen Osten. Dabei hat er nie den Kontakt zu sich selbst verloren, legt zwischen seinen unzähligen Projekten immer wieder auf und lässt sich dabei nicht in eine musikalische Schublade stecken.
365XX wird 2020 geboren – in einem Moment, in dem alle Zeichen auf Veränderung stehen und es endlich mehr Debatten über Diversität vor und hinter der Bühne gibt. Es ist das erste Musiklabel in Deutschland, das ausschließlich weiblichen, Transpersonen und nicht-binären Artists eine Plattform gibt.
Neben der bereits hier im Popcast vorgestellten Künstlerin Die P sind insgesamt sieben weitere Artists auf der Platte Vol. 1 vertreten – und jede davon ist einzigartig. Die musikalische Bandbreite könnte kaum größer sein: von Dancehall-geprägtem R&B über Elektro-Rap bis hin zu feministischem Battlerap ist alles dabei. Die Autorin, Musikpromoterin und Gründerin Lina Burghausen hat sich dafür mit dem deutschen Ableger der Plattenfirma Pias zusammengetan. Gemeinsam könnten sie eine Lücke besetzen, die es nicht nur in der hiesigen Rap-Landschaft gibt, sondern in der gesamten, nach wie vor patriarchalisch geprägten Musikindustrie.
Treffend Zeitkapsel benannt ist das das zweite Album der in Brasilien geborenen und in Berlin lebenden DJ Joyce Muniz, denn das im Lockdown geschriebene Album zeichnet einige Stationen ihrer Karriere nach. Bemerkenswert ist ihr Gespür für die besten Momente des Electro-House der 2000er Jahre, und ihre hörbare Freude an der großen Feierei. Ihr Kalender liest sich dann auch wie es sich gehört – von Berlin über Ibiza nach Australien und zurück nach Wien, wo sie in den 1990 Jahren gelebt hat. Und das ist nur der Juni, der Sommer hat noch nicht einmal richtig angefangen.
Esta es la Rumba
La Rumba de la Bruja
La Bruja que te embruja
La Bruja del Volcán
Daniel Haaksman „Bruja“ ft. MALAGÜERA + Los Bulldozer
Daniel Haaksman, Autor, Musiker und Labelbetreiber, haben es südamerikanische, insbesondere brasilianische Rhythmen angetan. Und dieser Leidenschaft geht er so konsequent nach, dass seine Veröffentlichungen niemals auch nur ein bisschen an das regnerische Berlin erinnern, sondern er sogar zahlreichen brasilianischen Musiker*innen eine Plattform für ihre internationalen Veröffentlichungen bietet. Aber es ist weit mehr als Musik für den Strandurlaub. Die meisterhafte Verbindung der Kulturen, die knallige Produktion lateinamerikanischer Stile wie Funk Carioca (von Haaksman in Baile Funk umbenannt), Soca oder Cumbia, aber auch afrikanischer Sounds wie auf seiner Compilation African Fabrics, sind wichtige Beiträge nicht nur zur deutschen Musiklandschaft.
Raz Ohara ist kein Rocker. Das ist aber ziemlich die einzige Kategorisierung, die zu ihm einfällt, zu vielschichtig sind seine liebevoll zusammengetragenen Songcollagen, in denen er, so sagt man ihm nach, gern auch sich selber sampelt. Häufig trägt neben seiner ganz nah aufgenommen Stimme ein simples Wandklavier die Harmonien, und auf seinem neuen Album Tyrants spielt auch Jazz zunehmend eine Rolle. Bei so viel analogem Charm verwundert ein Blick auf seinen Katalog, der wesentlich durch elektronische Kollaborationen geprägt ist. Dieses neue Album knüpft hingegen an seine Arbeit mit dem Odd Orchestra an, mit dem er seine Liebe zu Singer/Songwriter-Genre ausleben konnte, und gefällt in seiner gut ausbalancierten Mischung aus Melancholie und Verklärung.
Instinctive Travels on the Paths of Space and Time, das neue Album des Münchner Autoren, Poeten, Musikers und (studierten) Politologen Angela Aux, kommt als Trilogie daher, flankiert von einem Science Fiction-Roman und einem Theaterstück (Introduction To The Future Self, uraufgeführt letztes Jahr in den Münchner Kammerspielen). Aber schon für sich genommen ist der Weird Folk des Bassisten und Sängers der Münchner Band Aloa Input wert, angehört zu werden. Seine ausufernde Sci-Fi-Erzählung eines Aliens mit existentiellen Fragen zum Universum ist ein geschmeidiges, mit Luftigkeit und unglaublicher Sanftheit produziertes Werk, das mit Synthie-Slides, Streicher-Melodie-Bögen eine tröstende Zukunft zeichnet, in der die Fragen der Menschheit und Menschlichkeit zum Wohl aller Aliens und Nicht-Aliens gelöst werden können.
Let the ships of the mind sail, dear clouds and stars
MD Pallavi & Andi Otto, „Prayer To The Cloud“
Eine ganz besondere Zusammenarbeit sind die klassische Hindustani Sängerin MD Pallavi aus Bangalore & der Hamburger Komponist und DJ Andi Otto eingegangen. Nachdem sie sich im bei einer Theateraufführung in Berlin kennengelernt und im Rahmen einer Residenz in Indien gemeinsam Musik zu machen begonnen hatten, entstand eine sehr fruchtbare jahrelange künstlerische Kollaboration. Auf Songs for Broken Ships zeigt sich eine aus zwei ganz unterschiedlichen Herkünften verwobene Vision von elektronischer Popmusik, die geprägt ist von den in der indischen Sprache Kannada vorgetragenen Gedichten Pallavis und Ottos elektronischen Produktionen, die man mal Slow House, mal Folktronica nennen könnte. Dabei entwickelt das interkulturelle Werk eine intensive Schönheit, in der aus den Geschichten der Gedichte musikalische Erzählungen werden.
Everything in me is new and light like air Every thing is freed It is new and free of care
Jungstötter, „Air“
Die Nürnburger Robocop Kraus, Veteranen des deutschen Alternativpop, sind zurück. Ihr neues Album Smile weht wie ein frischer Wind durchs Zimmer, mal treibend wie eine 1960er-Jahre Garagenband, mal reduziert und verschmitzt mit lustigen Synthesizer-Linien, und dann wieder großzügig ausgepolstert mit warmen, freundlichen Westcoast-Anleihen. Was diese Band ausmacht, ist ihr treffsicheres Gespür für humorvolle Observationen: das Album steckt voller kleiner und großer Geschichten, die den musikalischen Ausdruck validieren. Das bisher beste Album einer schlauen Band. Hier zum Beispiel im Devo-Modus:
Hendrik Otremba ist der Sänger der Band Messer und hat gerade sein erstes Soloalbum veröffentlicht. Der Maler, Autor und Dozent (usw.) versteht Musik als eine seiner gleichberechtigt nebeneinander existierenden Ausdrucksformen; eine Idee kann durchaus zu einem Gemälde, einem Roman oder eben zu einem Song werden. Sein Album Riskantes Manöver geht allerdings, wie der Name andeutet, einige Risiken ein: Die vorgetragenen Gedichte sind voller geheimnisvoller Andeutungen und kryptischer Halbsätze und werden mal mit zitternder Stimme gesungen, mal gerufen oder geflüstert. Bei all der Theatralik ist bisweilen offen, ob es sich nicht vielleicht um Satire handelt. Musikalisch ist das Werk allerdings makellos und lotet die verschiedensten Ausprägungen düsterer Genres von industrieller Brutalität bis zum tiefgängigen Chanson aus.
Sehr viel bescheidener geht Melissa Maristuen aka Doc Sleep zu Werke. Die Berlinerin ist als Betreiberin eines Labels normalerweise mit den Karrieren Anderer beschäftigt. Jetzt aber hat sie Birds (in my mind anyway) abgeliefert, ihr Debutalbum. Grob als Ambient Techno einzuordnen, zeigt sich die Stärke ihrer Musik in ihrer Subtilität, aber auch ihrer Wandlungsfähigkeit. Eines gilt immer – Zeit scheint nie eine Rolle zu spielen, und selbst wenn mal ein Breakbeat durch die traumhaften Sequenzen dringt, bleiben die Kompositionen geerdet und es entsteht das wohlige Gefühl, einem zeitlosen Meisterwerk beizuwohnen.
As far as I can tell, everyone loves you with your silly heart, your pretty smile
Kid Empress, „Forever Young“
Kid Empress aus dem kreativen Umfeld des Frische Luft-Labels fallen als erstes durch ihr konsequentes Artwork auf, das eine Vorliebe für abstrakte Acrylgemälde offenbart. Musikalisch allerdings zeigen sie sich offener. Die Wahl der Arrangements ordnen sie konsequent ihren Kompositionen unter, was vor allem deswegen gelingt, da die Mitglieder gemeinsam Jazz studiert haben. Jazz spielt bei Kid Empress allerdings keine große Rolle, ähnlich wie bei der US-Band Midlake wendet sich das Quartett lieber dem Alternative Pop-Universum zu.
Wohl kaum ein zweites Album wurde so lang und mit Spannung erwartet wie das von Fabian Altstötter alias (haha) Jungstötter. Sein Debutalbum Love Is, erschienen im Jahr 2019, etablierte den Bariton als eine Art deutschen Scott Walker, dessen opulente, aber durchdachte Orchesterarrangements und atmosphärische Lyrik der deutschen Musikgeschichte eine bisher unbekannte Facette hinzufügte. Sein geschmackvollen Pathos und die wohlige Ernsthaftigkeit seines Vortrags sind ihm geblieben: One Star knüpft dort an, wo der Vorgänger das Publikum hinterlassen hat. Die langen, ruhigen Kompositionen versöhnen mit der langen Wartezeit und entfalten eine magische Sogwirkung, aus der es kaum ein Entkommen gibt. Dabei ist es homogener und zugänglicher als das Debütalbum, was dem kommerziellen Erfolg des Albums ohne Zweifel zuträglich sein wird.
Der Trip Hop der 90er Jahre ist zurück - allerdings in neuem Gewand: Mit seinem Album Right on Song liefert das aus Bayern kommende Trio FEH ein besonderes Debüt. Bassist Oliver da Coll Wrage und Schlagzeuger Manuel da Coll dürften vielen als (Ex-)Mitglieder der bayrischen Pop-Brass Band LaBrassBanda bekannt sein. Wer bei FEH allerdings Lederhosen und Mundart erwartet liegt gehörig falsch: Das Trio um Sängerin Julia Fehenberger liefert lässig eleganten Trip Hop, der mal minimalistischer und mal souliger daherkommt. Eindrucksvoll – nicht zuletzt aufgrund der geschulten Stimme Fehenbergers, die scheinbar mühelos über die Arrangements ihrer Band-Kollegen hinweggleitet.
Am Wahn angekommen, aber keineswegs verrückt geworden ist Songwriter Tristan Brusch mit seinem neuesten Album. Als Gratwanderung zwischen Chanson und Popmusik gepaart mit viel Drama führt uns Selbiges zurück in das Frankreich der Sechzigerjahre. Wie bei den großen französischen Chansonniers, darf auch bei Brusch eine gewisse Portion Herzschmerz nicht fehlen. So bildet sein neuestes Album die Facetten toxischer Liebesbeziehungen ab. Zigarettenrauch und Rotwein lassen sich förmlich riechen, während Bruschs Stimme klar über Streicher-Arrangements und melancholischen Klavier- und Gitarrenklängen schwebt.
Just because I’m not a man
I cannot be objective, I can’t control my feelings,
I am just a casualty in your fucking life
CAVA, „Touch my skin“
Benannt nach dem spanischen Schaumwein zeigt sich das Berliner Duo CAVA auf seinem Debüt-Album Damage Control ebenso quirlig wie sein perliger Namensgeber. Gitarristin Peppi Ahrens und Schlagzeugerin Mela Schulz liefern mit eingängigen Melodien, trotzigen Texten und viel Feedback Garage-Punk wie er im Buche steht. Hin und wieder schwingt dabei eine Brise Feminismus und Kapitalismuskritik mit. Das Duo findet seine Inspiration unter anderem in der Riot Girrrl Bewegung. Die Musik von CAVA ist energiegeladen und auch bei der Veröffentlichung des Albums konnte es nicht schnell genug gehen: Damage Control haben sie in Eigenregie schon in Berlin veröffentlicht, bevor sie zu ihrem Hamburger Label Buback kamen.
Mit seinem mittlerweile siebten Album gehört Nordlicht Niels Frevert bereits zu den „alten Hasen“ der Deutschpop-Landschaft. Pseudopoesie folgt auf sein 2019 veröffentlichtes Album Putzlicht und ist anders als der Titel vermuten lässt mitnichten „pseudopoetisch“. In gewohnter Frevert-Manier werden Worte gedreht und gewendet, Wörter wie „Waschbeckenrand“ werden kurzerhand zum Song-Titel umfunktioniert und eine Person kann auch schon mal „flatterhaft wie Flatterband“ sein. Wie auch Putzlicht ist Pseudopoesie im Vergleich zu früheren Alben deutlich tanzbarer, was sich in Titeln wie Fremd in der Welt oder Kristallpalast zeigt. Einen Anteil daran hat vermutlich auch Freverts neuer Produzent Tim Tautorat, der vor allem für seine Zusammenarbeit mit Deutschpop-Acts wie AnnenMayKantereit, Provinz oder Faber bekannt ist.
Ich sing' in einem Käfig, in dem der Algorithmus nicht greift
Niels Frevert, „Fremd in der Welt“
Von den Niederlanden, über Kasachstan bis hin nach Uganda: Zoë McPhersons kreatives Schaffen als DJ, Performer und Multimedia-Artist führte McPherson schon in die verschiedensten Länder. Das neueste Album Pitch Blender ist von experimentellem Techno geprägt und wurde über das eigene Label SFX veröffentlicht, das McPherson gemeinsam mit Alessandra Leone gegründet hat. SFX ist nicht nur ein Label, sondern soll gleichzeitig auch eine Plattform für audiovisuelle Künste sein und Raum für Experimente und Kreativität bieten. McPherson probiert sich gerne aus und diese Vorliebe spürt man auch auf Pitch Blender.
Stefan Schwander hat sich in den letzten Jahren als Harmonious Thelonious eine ganz besondere Nische geschaffen, indem er afrikanische, südamerikanische und mittelöstliche Rhythmen mit minimalistischer Elektronik mischte. Auf seinem neuen Album Cheapo Sounds kehrt er all dem den Rücken zu. Reduziert auf ein einziges Instrument, dem vor rund einem Jahrzehnt erschienenen (und keineswegs billigen) Synthesizer Monomachine der schwedischen Firma Elektron, hat er eine auf wenige Spuren reduzierte Sammlung von Songskizzen geschaffen. Diese wirken bisweilen äußerst spröde, entwickeln aber einen hypnotischen Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Techno und Leftfield House markieren das Schaffen des Münchner Djs und Produzenten Sam Goku. Während Auftritte in einigen der bekanntesten Clubs Europas und sein eklektisches Set bei der letzten Ausgabe der englischen Secret Garden Party ihn international machten, hat er nie aufgehört, seine Fähigkeiten als Mixer und Selektor und auch als Produzent zu verfeinern. Das man dem neuen Material, Vorboten auf sein jetzt erscheinendes zweites Album Things We See When We Look Closer, auch deutlich anhören kann.
Wir laufen nebeneinander 1,5 Meter Abstand
Mira Mann, „Abschied“
Zurückgenommen, überlegt, abstrakt und poetisch, so wirkt die Musik auf Mira Manns Debutalbum weich. Die als Autorin unter anderem für das Kulturmagazin Das Wetter und die Süddeutsche Zeitung tätige Künstlerin spricht ihre kühlen Betrachtungen zu knochigem, weitgehend elektronischem und oftmals leierndem Sound. Das Tempo ist durchweg moderat, kein Ton zuviel, man spürt wieviel Überlegungen in die Produktion investiert wurden. Aufmerksame Popcast-Hörende erkennen in ihr eines der Gründungsmitglieder der Münchner Post Punk-Band Candelilla, deren zweites Album von keinem geringeren als Steve Albini produziert wurde. Ein fantastisches Werk.
And we will never sympathize with these iron jaws
Until the coast is clear – hide
Grow stronger
Colder
Gemma Ray, „Be Still“
Gemma Ray & The Death Bell Gang ist ein kantiges Experiment cineastischer Electronica, in gewisser Weise eine Abkehr von dem sonst für sie typischen geschmeidigen Pop-Noir. Aber auch bei der Death Bell Gang mischen sich das Traurige und das Böse mit Zärtlichkeit und Sehnsucht, und irgendwo schwingt immer eine Glocke mit. Die in Großbritannien geborene Wahlberlinerin blickt schon auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen zurück, zeigt sich aber auch auf diesem neuesten Werk erfrischend und neugierig.
Pascow, das schon über 20 Jahre alte Punk-Projekt der Brüder Alex und Ollo Thomé aus dem beschaulichen Rheinland gehören zu einer sehr stabilen Szene des deutschsprachigen Punkrocks, der allerdings außerhalb des deutschsprachigen Raums kaum Gehör findet. Dafür in Deutschland umso mehr – ihr letztes Album konnte sich zur Veröffentlichung im Jahre 2019 in den Top 50 der Albumcharts platzieren. Vom Mainstream sind sie dennoch meilenweit entfernt – eigener Aussage zufolge sind sie im Laufe der Jahre eher härter als sanfter geworden.