entreLíneas 2021

entreLíneas 2021

Unter dem Motto OHNE PUNKT UND KOMMA widmet sich die vierte Version von entreLíneas den offenen Formen der Poesie: Maßlosigkeit in jeder Hinsicht erwünscht. Welche Mittel und Wege findet Lyrik, um die Sprache aufzuwühlen, in ihre Ecken zu spähen und zum Gespräch zu bitten? Wir fragen nach, Zeile für Zeile, und vor allem: dazwischen.

Die diesjährigen Teilnehmer*innen sind Macarena Cortés, Rafael Cuevas Bravo und Emilia Pequeño Roessler aus Chile sowie Marlene Fleißig, Slata Roschal und Elena Schaetz aus Deutschland. Seit Anfang Juli 2021 tauschen sie sich untereinander in einer virtuellen Autor*innenwerkstatt aus und schreiben auf dem entreLíneas-Blog.

Eingerahmt wird ihr Austausch von der Lektüre von Friederike Mayröcker und Raúl Zurita, die beide sozusagen OHNE PUNKT UND KOMMA schreiben, sei es in den Weiten der Wüste oder im Himmel, via Sprachnachrichten oder in Notizbüchern, auf Steilküsten oder unzähligen Zetteln, im Takt der Schreibmaschine oder mit dem Handy.

Wir laden ein zur Lektüre der im Rahmen von entreLíneas2021 entstandenen Texte:

19. Juli, Ohne Punkt und Komma
2. August, Antworten
16. August, Zurita deine Ges​änge
30. August, Wenn nichts passiert
13. September, Frei heraus
27. September, Wider den Tod

Autor*innen

Rafael Cuevas Paula Cuevas

Rafael Cuevas Bravo

1994 in Viña del Mar geboren, veröffentlichte den Lyrikband Curauma (Verlag Aparte, 2019). 2019 war er Organisator des Poesiefestivals „Maraña“ in Valparaíso und ist zudem Herausgeber des Buches mit gleichem Titel (Verlag Alquimia, 2019). Er ist Teil des Herausgeberteams von Ediciones Inubicalistas. Er ist Redakteur, Verleger und Übersetzer der digitalen Zeitschriften Concreto Azul und El Circo en Llamas. Momentan absolviert er einen Master in Kreativem Schreiben an der Universidad Nacional Tres de Febrero in Argentinien.


Macarena Cortés Macarena Cortés

Macarena Cortés

1987 in Chile geboren, arbeitet und lebt in Santiago. Sie ist multidisziplinäre Künstlerin, absolvierte ein Studium in Bildender Kunst und als Kunstlehrerin an der Universidad Finis Terrae sowie einen Master in Kunst mit Schwerpunkt Bildender Kunst an der Universidad de Chile. Ihre Werke wurden sowohl in Chile als auch im Ausland im Rahmen diverser Gruppenausstellungen gezeigt. Seit 2018 ist sie Mitbegründerin von La Farmacéutica Nacional, einen multidisziplinären Kollektiv, das aktuelle Themen in Chile rund um die Themen Gesundheit, Kunst, Lyrik und kulturelle Mediation behandelt.


Marlene Fleißig Marlene Fleißig

Marlene Fleißig

1992 in Deutschland geboren, war von Beginn an Feuer und Flamme für entreLíneas als sie in der Ausschreibung den Namen Friederike Mayröcker las. Als Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin ist sie auch beruflich im Kulturaustausch unterwegs, und freut sich besonders, bei entreLíneas ihre Texte auf Spanisch lesen zu dürfen. Sie lebt, schreibt und liest in Leipzig. 2019 erschien ihr Debütroman "Bestimmt schön im Sommer". Wenn sie in einem anderen Land ist, geht sie gern in Buchläden und fragt nach Empfehlungen für zeitgenössische Literatur. Im südchilenischen Punta Arenas drückte ihr eine Buchhändlerin eine Graphic Novel in die Hand.


 


Emilia Pequeño Privado

Emilia Pequeño Roessler

1997 in Santiago geboren, studierte Hispanistik und ist Spanischlehrerin. 2018 hat sie den Roberto-Bolaño-Preis in der Kategorie Lyrik erhalten sowie 2017 eine Ehrung bei den Juegos Literarios Gabriela Mistral. Sie war Stipendiatin der Pablo Neruda-Stiftung (2018) sowie der Stiftung Libro y lectura. Momentan absolviert sie ein zusätzliches Studium in Kunstgeschichte- und theorie an der Universidad de Chile und ist Teil des Übersetzerkollektivs Frank Ocean. Sie ist in folgenden Anthologien vertreten: Topiaria (2019), Taller Lorkokran (2019) und Maleza (2021).


Slata Roschal Martin Richartz

Slata Roschal

1992 in St. Petersburg geboren, lebt heute in der Nähe von München. Sie studierte Slawistik, Germanistik und Komparatistik in Greifswald und promovierte in München über Dostojevskijs "Untergrundmenschen". Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Blogs und Anthologien. Lyrikbände: Wir verzichten auf das gelobte Land (Reinecke & Voß Leipzig 2019), Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus (hochroth München 2021). 2018 erhielt sie den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern, es folgten mehrere Arbeitsstipendien.


Elena Schaetz Leonie Viktoria Hühnlein

Elena Schaetz

1995 in Berlin geboren, wo sie bis heute lebt und schreibt. Sie hat ihren Bachelor in den Fächern Deutsche Literatur und Regionalwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen und studiert aktuell im Master Afrikanistik mit dem Schwerpunkt Literatur und Kultur. 2020 belegte sie beim österreichischen Literaturwettbewerb Zeilen.Lauf in der Kategorie Lyrik den dritten Platz. Sie schreibt neben Lyrik auch fragmentarische Prosa und Erzählungen. Zu ihren Hauptthemen zählen queere Lebensrealitäten, Alltagsbeobachtungen aus dem Großstadtleben und die Schwere kleiner Momente.


Jury

Carlos Cociña Loreto Varas Bordeu

Carlos Cociña

1950 in Concepción (Chile) geboren, Lyriker und arbeitet als Verleger literarischer und nicht-literarischer Bücher. Seit den 80er Jahren hat er fünf Lyrikbände veröffentlicht und betreibt seit 2003 eine Webseite mit Texten für dieses Format. Er gab literarische Werkstätten in öffentlichen Gefängnissen in Santiago sowie im Kulturzentrum Balmaceda Arte Joven und Descentralización poética. Er ist Teil des Schriftstellerforums und arbeitet zusammen mit La Orquesta de Poetas. 2014 hat er den Literaturpreis der Stadt Santiago erhalten und 2017 den Preis für den besten Lyrikband, vergeben vom Kreis der Kunstkritiker in Chile. Auf Grund seiner Laufbahn als Lyriker und seinem Engagement für die Lyrik hat ihn die Pablo-Neruda-Stiftung 2017 eine Anerkennung verliehen.

Seine Veröffentlichungen sind: Aguas servidas, 1981, 2008, 2016, 2018. Tres canciones, 1992. Espacios de líquido en Tierra, 1999, 2013. poesiacero.cl, 2003. Plagio del afecto, 2010. El Margen de la propia vida, 2013. La casa devastada, 2015, 2017. Poesía Cero, 2017. Materiales, 2019.


 


Nora Gomringer Judith Kinitz

Nora Gomringer

1980 geboren, Deutsch-Schweizerin, Lyrikerin und Performerin. Sie schreibt für Rundfunk und Fernsehen, konzipiert Filme, Theaterstücke und Libretti. Für ihr Werk vielfach ausgezeichnet (zuletzt mit der Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz) erweitert sie ihr Oeuvre beständig, arbeitet mit Musiker*innen - allen voran mit dem Schlagzeuger Philipp Scholz - und Bildenden Künstler*innen zusammen. Für das Goethe-Institut reiste sie innerhalb von zwanzig Jahren viele Male, trat für die Sprach- wie die Kulturabteilungen des Instituts an verschiedenen Orten auf. Ebenso wurden die Übersetzungen ihrer Bücher durch das Goethe-Institut mitermöglicht. So erschienen innerhalb der letzten Jahre eine Übersetzung ins Vietnamesische und eine ins chilenische Spanisch. 2019 war Gomringer im Rahmen des FIP - Festival Internacional de Posíea sowie auf einer Lesereise in Chile, wo sie beim Verlag Librosdementira verlegt wird. Auch in 2019 verbrachte sie eine Max-Kade-Gastprofessur in Oberlin, Ohio, USA. 

Nora Gomringer hat insgesamt neun Lyrikbände und zwei Essaybände publiziert sowie zahlreiche Einzelveröffentlichungen. Sie ist die aktuelle Leiterin des Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. 
 


Übersetzer*innen

Patricio Hergott Patricio Hergott

Patricio Hergott

geboren in Buenos Aires, Argentinien, ist diplomierter Englischübersetzer, Dolmetscher und Anwalt. Er hat absolvierte einen Master in Politikwissenschaft an der LMU München. Er studierte deutsche und französische juristische Übersetzung an der Universidad de Buenos Aires (UBA). Zudem nahm er an einem Masterseminar in Literarischer Übersetzung an der LMU München teil. Als Stipendiat vielfältiger akademischer Institutionen interessiert er sich für Klassiker der deutschen und lateinamerikanischen Literatur und nimmt regelmäßig an unterschiedlichen internationalen Übersetzungs- und Forschungsprojekten teil.


Johanna Malcher Johanna Malcher

Johanna Malcher

ist Diplom-Literaturübersetzerin und lebt seit vielen Jahren in Mexiko-Stadt, wo sie als freie Übersetzerin und Lektorin tätig ist. Den Sommer 2019 verbrachte sie dank eines Residenzstipendiums im Banff International Literary Translation Centre in Kanada. Ihre Übersetzungen erschienen u. a. bei Ediciones Paidós, Fondo de Cultura Económica, El Colegio de México, UNAM, beim Goethe-Institut Mexiko und in verschiedenen Zeitschriften.


Veronika Reinertshofer Marta Sobocińska

Veronika Reinertshofer

Nach erfolgreich abgeschlossenem Studium der Theaterwissenschaften, Philosophie und Spanisch an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), arbeitete sie zunächst zwei Jahre in Barcelona und absolvierte im Anschluss daran den weiterbildenden Master Literarisches Übersetzen mit der Schwerpunktsprache Spanisch an der LMU. Derzeit widmet sie sich dem Bibliotheks- und Informationsmanagement. 


Literarischer Dialog

Wider den Tod

27. September 2021

Die folgenden Arbeiten sind durch die Beschäftigung mit der Lyrik Friederike Mayröckers entstanden. Zeitlebens hat die erst kürzlich verstorbene Autorin gegen den Tod angeschrieben. Ihre Texte bleiben und verbreiten sich über den Ozean.

 

du hasst den Tod – Tränende AugenIn Ligurien – / im gedenken an inelia merino – Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden – Winddrachen am Strand

Mayroecker in ihrer Wohnung

du hasst den Tod

von Marlene Fleißig

du hasst den Tod
jetzt hat er dich
du schreibst nicht mehr,
du schweigszt
 
Nicht mal der Schneider kann‘s noch ändern – 
Poëme zu Epitaphen
 
Nie nachgelassen,
Nachlass nur
Farnkrautaugenverwitterung;
Was brauchst du noch in der Wolken Flut?
.

Tränende Augen

von Slata Roschal

Tränende Augen und weisze Vögel mit Tattoofarbe vertuschen, mit Einwegnadeln verritzen, wenn sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen, weiß ich, dass ich endgültig alt bin.

In Ligurien

von Elena Schaetz

am Balkongeländer stehen 
den Blick aufs grüne Blätterdach
ich versenke den Sonnenuntergang in meinem Glas
später dann durch die Straßen streichen 
alles Weitere zur Seite schieben 
jetzt gibt es nur noch Berge und Küste
Sonne und Salz
schmale Gassen aus alten Steinen 
die hungrige Gischt am Strand 
und das warme Rauschen in meinem Kopf

/ im gedenken an inelia merino

von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher

es wachsen rübsen, gräser, inkalien
am kanalrand die wasserkonstruktion
ein fluss in gegenrichtung der wolken
 
in der dämmerung wetzten die grillen ihre flügel
hennen pickten übereinander her
reisreste und kartoffelschalen
 
dieses land ist knospe und spross der sauerkirsche
dieses land ist ein flackerndes schweigen

Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden


von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer
 

Besessen davon, Spuren des Himmels am Boden zu finden 
Erdrutsche
die Linien in der Wüste sind nicht immer Wege
oder Konstellationen
die Wege sind nicht immer Routen
ich verwechsle Bäche mit Schluchten
ich verliere Breiten
gasförmige Körper, die keine Spuren hinterlassen 
ich verliere die Orientierung. 

Winddrachen am Strand

von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Der magere Hund
ist eine Spalte aus Wind,
ein Blitz
in der Luft gefangen
von den Augen bis zum Schwanz.
Mit diesem Betteln
im Blick, wird er von Gott sprechen
und unserem Stamm. Der Geist
der Weichtiere atmet
in jedem einzelnen Stein;
es ist das Blau und die Schale der Wolken,
weiß vom Aufbauschen. Es ist bekannt,
dass es auch etwas aus Schaumblasen
in der Persönlichkeit des Hundes gibt.
Etwas aus Sonne, um nicht weniger zu sein,
ein Etwas aus Liebe.
 

post Unterdrückung

von Marlene Fleißig

Post Artikel

Glühende Liebesbriefe
Benachrichtigungen über Lottogewinne
Nachrichten lange verloren geglaubter Freunde
Postkarten aus fernen Ländern
Entschuldigungschreiben unfreundlicher Menschen
Einladungen zu rauschenden Festen
Fünfstellige Steuerrückzahlungsbenachrichtigungen
Karten mit: „Ich hab dich gern“
Briefe an Oma.
Geniale Manuskripte.
Pläne zur Weltverbesserung.
Botschaften über den Sinn des Lebens.
 

Wozu, frage ich mich

von Slata Roschal

Wozu, frage ich mich, wenn die Nachbarn einander anlachen und grüßen, Garten an Garten, ich über ihnen schwebend, hockend, auf dem Balkon, hinter roten Geranien, oder wenn bärtige, faltige Menschen sich als Nachwuchsautoren bezeichnen, oder wenn eine Freundin aus Umweltgründen auf Tampons verzichtet, oder wenn ich in der Zeitung lese, dass ein Mann seine Frau im Kasten unter dem Kinderbett versteckt hielt, sie haben zuerst nichts gefunden, die Polizisten, bei der ersten Durchsuchung, kehrten zurück, bemerkten dann einen fleckigen Teppich ─

Orkane mit weiblichen Vornamen

von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Orkane mit weiblichen Vornamen. Ein Hügel stürzte am Strand der Toten zusammen. Der Schmerz in den Knochen meiner Mutter ist eine Regenvorhersage. Je höher die Luftfeuchtigkeit ist, umso kälter empfindet man die Luft. Weißdorn wächst auf beschädigtem Boden und schafft Mikroklimata zum Schutz der Knospen. Überschwemmungen und Erdrutsche. Kondensierte Tropfen zerstörten Häuser. Mein Großvater bewohnte ein verlassenen Zugbahnhof inmitten der Wüste. Chacance des Araukanischen, Seufzerbrücke. Meeresanstieg und Rückgang der Küstenlinie. Als Kind tauchte ich meine Wunden in Schlamm.  

Marlenes (hypothetische) Dolmetschnotizen zum Text "Orkane" von Macarena

von Marlene Fleißig

Dolmetschnotizen

Notizen

Notizen 2

Weißwein in Teetassen

von Elena Schaetz

Während ich mich an die letzten Tage des Sommers klammer
schütteln die Linden auf meiner Straße bereits die ersten Blätter ab 
der Herbst war noch nie leicht
aber solange ich deine schwarzen Haare auf meiner Bettdecke finde 
habe ich nichts zu fürchten 
während ich morgens noch die Sonnenmilch auftrage
bläst abends ein Wind durch die Wildenbruchstraße
der nach Winter schmeckt und Abschied schreit 

vielleicht sollte ich aufhören so pathetisch zu sein
es ist das größte Wunder
dass dich das nicht verschreckt

in meinem Kopf gibt es seit ich dich kenne kein Zerdenken mehr
nur eine Montage mit Bildern von dir 

du 
      in der U8 
      mit müdem Blick nach langen Nächten
du 
      mit hochgelegten Beinen im Garten 
      mit Weißwein in deiner Teetasse
du 
      im James Simon Park
     mit dem Gesicht in der Sonne und deiner Hand auf meinem Bein 
du 
    auf deinem Fahrrad auf dem Tempelhofer Feld
    kurz bevor die Sonne sich den Betonwegen neigt 
du 
     an der Bar vom About Blank
     am Sekt bestellen
     ein Glas
     dann doch eine Flasche 
du 
     auf den Raves
     dein Name ein dauernder Widerhall 
     so viele Leute wollen was von dir
du
      wie du dich wieder doch zu mir umdrehst
      zu mir
      am Ende immer nur zu mir
du
     in Schwarz mit schweren Boots und kurzen Shorts
     in ehemaligen Fabriken
     wo der Bass durch die Betonhallen peitscht 
du
      wie du mich auf meinem Fahrrad von der Hasenheide nach Hause fährst
       der Himmel pink und rot über unserer Großstadtidylle
du
     wie du mit allem immer durchkommst
     dich mit deinem Charme jeder Regel widersetzt
du
     wie ich dir alles verzeihen würde
du
    wie du mich wegschickst
    um mich dann wieder einzuholen
du
     wie du vor dem Club auf dem Parkplatz weinst
     die dunkeln Augen groß und schwer
ich
     betreten daneben
     will dir alle Schwere nehmen 
     dir das beste aller Leben versprechen 
     will dir die Spinnen aus dem Schlafzimmer tragen 
    dein Mineralwasser kühlen und die Joints für dich drehen 
ich 
     will dir jedes Uber bezahlen
     dass du nie mehr nach dem Club in der Ringbahn einschlafen musst
ich 
      will dir alles schreiben
      bis es nichts mehr zu sagen gibt

egal wo du bist
ich bringe dich 

                              nach Hause
 

über das blaue im gedicht

von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher

so wie ein buchstabe distanz auflöst und schafft
ist durchsichtigkeit eine täuschung

das blau des horizonts markiert die nötige distanz
zum studium der dinge
die erst sinn ergeben, wenn sie verloren sind

die person, die diesen vers liest, spüre ich nicht
ich berühre höchstens ihre oberfläche
durch die porösität des papiers

haut benötigt luft und raum

zyanotisches Fleisch
markiert die gesten, die ein körper
in stille vereint
aus abschnürung wird nekrose
grapheme aus blauer tinte     

Knäuel

von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Wieder Fische sein, 
Strudel, Wasserhose
zerstreut vor der Meeresküste. Aus deinem Haar
kann ein Fluss werden und Schale 
einer perfekt geschälten Orange
in deinem Rücken: Faden und Nabel des Schlafes.
Die Katzen hinterlassen ls in den Ecken
des Hauses, verborgene Buchstaben zwischen Töpfen
und Obstschalen, Versuchung in der Traube
eingeschlossenen Nieselregen zu sehen.- Ich schlafe,
die Dinge beobachten mich, ich wache auf,
ich gebe den Fliegen Namen.
Ich taste nach einer Frucht
und finde einen Schuh
vergessen in einer Talsohle. 

Wenn nichts passiert

30. August 2021

Was passiert, wenn nichts passiert? Die folgenden Arbeiten durchforsten die Möglichkeit von Texten ohne Handlung und von einer Sprache, die frei ist von Erzählzwängen. 

Ein Stäbchen aus Rosenholz – Drei Schritte zum Café Kotti  – mit einem dünnen Schlauch – hinten vorne – Notizen vom 30 und 31 August  – Tram 9 Tram 11 Bus 60 

Bushaltestelle

​Ein Stäbchen aus Rosenholz

von Slata Roschal

Ein Stäbchen aus Rosenholz, weil es gut klingt vielleicht, es fühlt sich nach Bambus an, erinnert an Gärten, zurückschieben alles, mit einer kleinen schweren Schere beseitigen, einen Finger, der in Blut gerät, mit Rot übermalen, eine Feile aus rauem Glas, eine Seite zum Formen, eine zum Streicheln, ein Pinsel, ein weicher glänzender Tropfen, würde das Resultat doch nur ein wenig dem Vorgang entsprechen  ̶

Drei Schritte zum Café Kotti

Von Elena Schaetz

Die Hermannstraße liegt im immerzarten Grau. Herbst im August, es grüßt die deutsche falsche Spätsommerödnis. Vorbei am Bäcker, im Blumenladen sitzt der kleine Hund wieder im Fenster, die breiten Ohren aufgestellt. Vielleicht wartet er auf etwas. Im Frisörladen ist der Vogelkäfig offen, der Wellensittich will trotzdem nicht fliegen. Ich kann’s nachempfinden. Die U8 rattert durch den Schacht, wenn die U-Bahn einfährt, wird die schwarze Alufolie hochgeweht. Ich beiße mir auf die Lippe, hoffe, dass heute niemand nach Kleingeld fragt, heute will ich nicht nein sagen müssen. Der Kotti ist das letzte Stück Berlin, das bleibt, wenn der Rest nur noch Start-Up und Yogastudio ist. Vorbei am Obststand, Orangensaft für 1,50, mit großen Schritten über benutzte Spritzen auf nassem Asphalt. Die schwere Metalltreppe hoch, Stufe um Stufe wächst mein Blick über den Kreisverkehr. Eigentlich will ich heute gar nicht arbeiten, eigentlich will ich heute gar nicht schreiben, will nur am Geländer lehnen, mein Blick ins Glas vertiefen und mich im blauen Licht sonnen, bis das Neonlicht allen Schattengestalten den Weg in bessere Sünden weist.

mit einem dünnen Schlauch

von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

mit einem dünnen Schlauch, gieße ich den Vorgarten bis die kleine Terrasse überläuft und den Gehweg nass macht, ich spritze meinen eigenen Boden voll,; die Frühstückslichter umrahmen die Buddhastatuen und die Moai in der Türlaibung, durch die Vorhänge schimmern die Silhouetten der Krankenschwester und des Lastwagenfahrers; des Lehrers und der Hausherrin; des Polizisten und der aus gutem Hause; der Rentnerin und ihrem autistischen Sohn, der sie anschreit, wenn sie ihn nicht beachtet und nach drei Uhr nachmittags mit dem Hund redet, wenn er auch anfängt stur zu werden, um fünf

wir lachen über sein nie hilfst du mir bei irgendetwas,
über den Hund, der bellt und den Spaziergang, der  folgt,
ohne in die Augen zu sehen; unsere Sorge
ein Büßergürtel an einem Phantombein,
Schmerz der sich im Spiegel löst, 

hinten vorne

von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher

hinten vorne
(Löschverfahren nach a, A novel von Derek Beaulieu)

revés

derecho

Notizen vom 30 und 31 August

von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Notizen vom 30 und 31 August / Übung zur Extraktion inspiriert durch “Lo real y lo posible” („Realität und Möglichkeit“) von Fernanda Aránguiz

Apuntes días 30 y 31 de agosto

Apuntes días 30 y 31 de agosto 2

Tram 9 Tram 11 Bus 60

von Marlene Fleißig

Tram 9 Tram 11 Bus 60


Tram 9



 

Zurita deine Gesänge

16. August 2021

Basis für die folgenden Texte ist die Lektüre von "Lied an seine verschwundene Liebe" des chilenischen Dichters Raúl Zurita.  

Krieg kenne ich von facebook – Die ersten Schritte waren holprig – Lied von seiner verschwundenen Liebe – Was kommen wird ist das Grab – die faust fühlen – Auszug DES

ni pena ni miedo

Krieg kenne ich von facebook

von Slata Roschal

Krieg kenne ich von facebook, wenn sich Barrikaden bilden, Bündnisse geschlossen werden, Dichter aus kulturideologischen Gründen einander Drohungen verschicken. Einmal nahm ich meine Tabletten nach zwei Gläsern Wein, das Herz schlug wild, daher weiß ich, wie es ist, zu sterben. Folter stelle ich mir als eine Umsetzung aller Gedanken meiner Eltern vor, die mich zu richtigem Verhalten bringen wollten. In München gibt es ein unterirdisches Museum, in der Gabelsbergerstraße, mit Sarkophagen und Glasperlen und viel warmem Metall, Es riecht hier nach Blut, sagte mein Sohn, als wir den ersten Saal betraten, und ich dachte an die gebückte, sammelnde Isis.

Die ersten Schritte waren holprig

von Elena Schaetz

1/ Die ersten Schritte waren holprig, die ersten Zeilen gebrochen.

Du sprichst von deiner Heimat, ich mag dieses deutsche Wort nicht, Heimat, bei dir macht es mir aber nichts aus, schließlich ist deine Heimat eine andere. Wir sitzen auf dem Boden, irgendwie sitzen wir immer zu zusammen im Dreck, auf den schmutzigen Steinen der Admiralsbrücke, auf Bürgersteigkanten, auf dem Parkplatz vor dem Club, mal eine Flasche Weißwein, mal ein halb warmes Bier in der Hand.

Jenseits des Berliner Elfenbeinturms muss man schnell rennen können, wenn man so ist wie wir. Du erzählst von deinem besten Freund und wie sie ihn durch die Straßen gejagt haben. Ich kenne diese Geschichten, nicht nur von Chile, auch aus Russland, auch von näher, Polen, manchmal noch näher, Brandenburg, fast zuhause also. Wie als wir in kurzen Hosen auf unsere Fahrräder stiegen und zum Liepnitzsee fuhren. Kurz vor dem Bahnhof hielten wir an, ich rückte näher an dich, dein Blick wie warmer Honig, ich küsste dich, während die Sonne auf den Asphalt fiel, nur um einen Moment später Herzrasen zu bekommen, weil der Truck, der um die Ecke fuhr, auf einmal bedrohlich nah kam. Später habe ich dann gelacht, weil es so ein Klischee ist, der homophobe Trucker in Brandenburg, die Erkenntnis kam erst schleichend, es bleibt ein Niederschlag, auch mein Lachen war im Grunde nur verbittert. 

2// 

Vielleicht sollte ich
                    Gift und Galle spucken auf ihre Trucks und Stahlkappen

Vielleicht sollte ich
                    Jedem von ihnen den Mund verbieten

ihn mit Nadel und Faden zunähen 
bis nicht eine ihrer Silben mich mehr erreichen kann

Manchmal möchte ich 
               ihnen die Handgelenke verdrehen und die Finger nach hinten biegen bis 
ihre Knochen brechen wie dünnes Geäst
bis nicht eine ihrer schmutzigen Hände mich oder meine Schwestern mehr berühren kann

Wenn wir beisammen sind und die Nacht ihr tiefstes Blau erreicht 
greife ich nach den Händen meiner Freundinnen

wenn ich sie auf den Straßen sehe
                    mit hohen Schuhen und wallendem Haar
                    mit Baseball Caps und stoppeligen Beinen
                    mit rasierten Köpfen und aufgeschlagenen Knien 

sehe ich die Sanftheit in jeder von ihnen und frage mich
                      was ihnen wohl widerfahren ist 
                      wie viele Worte und wie viele Hände sie missachten haben 
und wie sie es schaffen
                      ihre Zartheit dagegen zu stellen 
und vielleicht ohne es zu wissen 
                     damit jeden Tag über jene zu triumphieren

Lied von seiner verschwundenen Liebe

von Marlene Fleißig

Lied von seiner verschwundenen Liebe
Such nicht mehr nach mir,
es hat mich nie gegeben.

Limbus
Da sagte Raúl zu Rita:
ich sing dir jetzt ein Lied
ach dein Ohr ist sterblich, so wie auch dein Auge
Rául, so Rita, ich bin eine Taube. 

ni pena

 

Lea Matika und Marlene Fleissig

Was kommen wird ist das Grab

von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

          Was kommen wird ist das Grab. Ein Stein, der in den Gedanken eines müden Mädchens blüht. Der Wind und der Regen bestimmen den Anfang und das Ende. Die Schleie badet in einem Mühlstein. Das Mädchen wandert alleine unter einem Bogen aus Weinranken, unter den erhobenen Armen der Frauen, die das Getreide anheben, damit der Wind die Spreu vom Weizen trennt. Der Regen schlängelt sich durch die rote Erde der Schlucht, löst die Ameisenhaufen und die Spur der Nattern auf, und ersetzt sie durch die eigenen Tropfenschlangen. 
         Mahlen, mahlen, singen die Frauen.
         Mahlen, mahlen, um den Wind zu rufen und damit er die Spreu vom Weizen trennt. 
         Das Mädchen entflieht dieser Arbeit. Sie sucht das Grab auf der Anhöhe hinter dem Haus. Es überhört die Rufe der Eltern. Schritte den Hügel hinauf, dem Ziegenpfad entlang. In seinem Kopf spinnt es eine Inka-Phantasie zusammen, ein geometrisches Muster. Das Mädchen versucht, die Grabstätte mit einem Metallstück zu öffnen. Das Mädchen träumt vom Stein, als würde es von der Zukunft träumen. Es macht einen Versuch und die Arme aus Weinranken weichen, vermischen sich mit der Erde. Die Frauen verabschieden sich und eine Reihe von Händen wedelt im Tal in der Luft. Ein kleiner Berg aus gestapelten Schaufeln. Ein Litri-Baum, dem sie den Gruß nehmen. Die Gespenster setzen sich nieder, um den Schatten unter den Bäumen zu genießen. Das Mädchen versucht, das Grab zu öffnen und nun kommt es auf es zu. Der Wind und der Regen bestimmen den Anfang und das Ende.
         Mahlen, mahlen, sangen die Frauen.  

die faust fühlen

von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher

die faust fühlen, den hieb, die oberhaut verdrehen der schändenden hände, hass zwischen den zähnen. sehen ist 
nicht alles

liebe ist, was geschieht 
erklingt die stimme zuritas

ich höre die gipfel. ihr weißes gleißen. santiago ist ein halb geschmolzener gletscher. ich denke daran, wie wir fallen, rücken an rücken. der unveränderliche fels der gipfelkette zerschellt wie eine pflaume auf dem asphalt, dein mund, kann sie zerfetzen. auf ihre weise sind lücken teil der kartographie.   
augen waren nicht dort
körper waren nicht dort
wir zerbrachen in stücke

Auszug DES

von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Auszug DES: Silbe aus der Romanischen Sprachfamilie des-, die die Inversion der Aktion bedeutet, vergleichbar mit der Vorsilbe ent- im Deutschen.


Auszug DES
Auszug DES

 

Eine geologische Störungszone

von Marlene Fleißig
Antwort auf den Text von Macarena Cortés

Eine geologische Störungszone zwischen Lausitz und Erzgebirge. Sandsteinzähne ragen in den Himmel, wo früher einmal ein Meer. Der Schnitt von zwei Geraden ist ein Fadenkreuz, zwei Geraden bedeuten: gestrichen. Glück auf, der Steiger kommt, und er hat sein helles Licht bei der Nacht. Regen flutet die Steinbrüche, die jetzt Seen sind, Feinstaubpartikel ertrinken darin. Kohle wird nicht mehr abgebaut, aber abgebaut. Ich streue Brotkrumen und suche den Weg zurück. Die Erde dreht sich zu schnell, der Tag hat zu viele Stunden. Kein Staub mehr, um einen Lichtstrahl aufzunehmen. Die Wäsche an den Leinen ist wieder weiß. Bei Sturm tritt die Elbe über die Ufer, nachts hat keiner einen Schatten. Ich lege die Zeitung beiseite und springe in den See. Ich atme aus

den Finger der Naht entlangführen

von Elena Schaetz
Antwort auf den Text von Emilia Pequeño

den Finger der Naht entlangführen
ein loses Stück Stoff
den Faden greifen
ein Ruck genügt 
der Riss 

                  befreit

ein rohes Wort
fast verschluckt
kaum ausgesprochen

die kalte Haut spannt sich
hält
                    zusammen

wo sonst Risse waren
die Streifen blass
wo sich Hände treffen

vergrab die Finger im Sand
zu den Wurzeln 
                           der vor dir 
und den Samen 
                           der nach dir

die Erde ist noch warm
wartet auf frisches Grün 
wartet auf den ersten Tropfen

Der Regen sickerte bis zum Untergeschoss durch

von Rafael Cuevas Bravo
Antwort auf den Text von Marlene Fleißig

Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Der Regen sickerte bis zum Untergeschoss durch und durchnässt die Wände des Parkhauses. Mit der Feuchtigkeit erscheinen Formen auf der Zementhaut: kleine Silhouetten von Möwen in Schwärmen, eine Wellenform von etwas wie Hügeln, vielleicht wo die Großmutter lebte und nicht mehr lebt. Ein Blitz einer Schlucht. Die Bilder pulsieren und das Parkhaus füllt sich mit Geistern. Ein angesichts eines Schneegestöbers stummer Maultiertreiber, ein junger Minenarbeiter, der seine Hände bei einer Dynamit-Explosion verliert, die Großmutter, wie sie Küken in den Taschen hat. Der Wachmann ist nicht da, er ist wohl auf dem Rundgang zwischen den Fahrzeugen. Kurven um Kurven aus Chrom unter dem Dach aus Beton, die Fahrgestelle spiegeln zwei drei Mal seinen Kopf wider, ziehen ihn lang und flach, mehr oder weniger dünn.  Stell dir Pfirsiche vor, wie sie in einer Milchpfanne kochen. Stell dir Mücken vor, die als Opfer der Leuchtstoffröhre in die Suppe fallen. Stell dir eine Seifenblase vor, die aufsteigt und sich auf der Oberfläche der Lagune auflöst.  

​Das Schwimmbad als Museum an Körpern

von Slata Roschal
Antwort auf alle

Das Schwimmbad als Museum an Körpern, zum Schauen und Staunen, allein die Narben von Kaiserschnitten, Blinddarmoperationen, die Dehnungsstreifen, blauen Flecke und Muttermale, es ist schwer, nicht danach zu schauen, dabei könnte es nicht harmloser sein. In einigen Bäuchen wölbt sich das Mittagessen, in einigen wachsen Embryonen, vor hundert Jahren noch hätten fast alle Frauen graue Haare und fast alle Männer schwarze Zähne, die Polyesterstreifen unter den Bäuchen furchtbar symbolisch, und drinnen, in diesen Formen und Förmchen, liegen Lungen und Fettgewebe verborgen und Mitochondrien, und alles, was darüber hinaus liegen soll, ist gar nicht zu sehen. Die großen Körper beinhalten kleine, von den gleichen Umrissen, aufeinander gestülpt, es geht immer weiter, ich halte mich am Beckenrand fest. 

eine feine Waldbraue

von Emilia Pequeño
Antwort auf alle

Übersetzung von Johanna Malcher

eine feine Waldbraue

hochgezogen 
abgedriftet am Rande
einer Ebene

da sind
Wellen
Sonne
Felder und Brachen
bei Berührung       glatt

unmöglich über die Geometrie
hinwegzusehen
 
leicht kratzen
an der geebneten
Oberfläche

ihre Gerade sein, und ihr Punkt
der Punkt, der die Gerade bestimmt
die Gerade, die verschmilzt
an der Schnittstelle des Punktes

vielleicht muss man den Stift nehmen
Kerzen anzünden
seine Spitze mit Wachs bedecken

oder Kontinente spielerisch
übermalen
klammheimlich
an Graffitiwänden
wie der Reisende
der in ihnen eine
Kosmogonie verwahrt

wenn die Erde sich öffnete
wenn der Wald nun nicht mehr wäre
als das Abbild einer Braue
ich glaubte es nicht

Der Erdrutsch folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Flussbettes

von Macarena Cortés
Antwort auf alle

Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Der Erdrutsch folgte dem Lauf eines ausgetrockneten Flussbettes. Wir hatten keinen Winter. Baukonstruktion ohne Bindemittel. Die Inka benutzten die Anthropometrie: Maße mit Verbindung zum menschlichen Körper. Erdbeben in Alaska. Wir sind Teil des pazifischen Feuergürtels. Unterirdisches Summen. Die Breite des Fensters entspricht meiner Hand und dem ausgestreckte Arm bis hin zur Schulter, mein Kopf reicht nicht bis zur Mitte der Höhe. Auf dem Glas sind Abdrücke von Händen zu sehen. Die romanischen Dachziegel werden dort auch als „Muskel-Ziegel“ bezeichnet. Die lateinamerikanischen haben die Eigenheit, dass sie länger und beständiger sind, es ist allgemein bekannt, dass das wegen der  Physiognomie der Sklaven so ist. Meine Mutter wechselte die Vorhänge. Sie haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. 

OHNE PUNKT UND KOMMA

19. Juli 2021

Unsere Autor*innen schaben mit den Stiften, kratzen an der Tastatur, schlendern durch die Werktstatt und hinterlassen ein Zeugnis.

FormAlle guten Gedichtedas Wortein Fluss aus KlärschlammkleinarbeitenFormen in Valeskas Gesicht

Komma

Form

von Marlene Fleißig

In den Semesterferien arbeite ich in der Backformfabrik am Fließband. 6:30 Uhr Schichtbeginn, Kaffeepause 15 Minuten, Mittagspause 30. Mit der Linken die Papp-Banderole nehmen, mit der Rechten in die Form kleben. 8 Stunden am Tag, 10 Wochen lang. Alle paar Sekunden fährt eine neue Form vorbei, die exakt so aussieht wie ihre Vorgängerin. Und wenn dem einmal nicht so ist, wenn die Maschine sich verschluckt hat und Dellen oder Kratzer entstehen, muss die Form aussortiert werden. Der Markt will es so.
 
Eine Kastenform hat vier Ecken, keine Täler, in denen unschön der Teig hängen bleibt. Ein Gugelhupf ist ein Gugelhupf ist ein Gugelhupf. Wer die Banderole erwartungsvoll von einer neuen Form reißt, will glatte, makellose Oberflächen. Hier kann noch alles werden.

Auf die Verpackung ist ein Rezept gedruckt, exakte Mengenangaben, damit der Kuchen klappt. Immer gleich gut. Nur nicht über den Rand. Auf-, aber nicht übergehen. Wer sich mal was traut, greift zur Herz-Springform, deren Winkel exakt so berechnet sind, dass es beim Lösen des Rings nicht bricht. 
Es gibt eine Zeit vor und nach Teflon. Die Formen heute sind alle beschichtet. Unsere Omas schrubbten noch. Aber der Kuchen hat immer geschmeckt, schön Buttercreme, Frankfurter Kranz. Omas Schürzenknoten, der ihren Körper am Rücken in die Proportionen von damals teilt.

Sie weiß nicht, wie man mit den neuen Formen umgehen muss, nicht, dass man sie mit dem Messer verkratzt, die Beschichtung löst. Dass heute niemand mehr Buttercreme will.

 In der Kaffeepause Müsli. Der Rest steht auf dem Innenhof und raucht. Sie sind immer hier, die Ferienarbeiter sind ihre einzige Abwechslung, werden misstrauisch umkreist und nach ein paar Tagen vergessen. 

An meiner Uniformjacke ist ein silberner Knopf am Ärmel. Ich will damit auf die glatte, makellose Oberfläche schreiben. Die Kastenform zusammendrücken, mit einer Hand, eine Ellipsenform jetzt, für Ellipseneclairs.

Formen auch, für die man keine Form braucht. Donutformen, runde Weihnachtsausstecher und Vanillekipferlformen. Oma formte fingerlange Teigstränge und bog sie zu kleinen Monden. Sie waren alle gleich. Die Banderole um das Vanillekipferlblech ist groß, das Rezept deutlich sichtbar. Omas Rezept funktioniert nicht für das neue Kipferlblech, der Teig will sich nicht aus der Form lösen. Was soll sie machen, wenn sie nicht kratzen darf.

Ich reiße die Knöpfe von meiner Jacke, um nicht in Versuchung zu kommen. Einen davon stecke ich in den Mund und lutsche ihn wie ein Bonbon.

Es ist August. Ich packe Weihnachtsausstecher in kleine Schachteln. Immer: Ein Stern, ein Tannenbaum, ein Herz.

In der Kaffeepause dreieckig geschnittenes Toast, in die Ecken meiner Dose gestapelt. 

Nach 10 Wochen gebe ich die Stahlkappenschuhe ab. Zum Abschied bekomme ich ein Vanillekipferblech geschenkt. Ich gebe es meiner Nichte, sie nimmt es mit auf den Spielplatz und füllt Sand hinein.
 

Alle guten Gedichte gleichen einander

von Slata Roschal

Alle guten Gedichte gleichen einander, jedes schlechte Gedicht ist schlecht auf seine eigene Weise. Gut bedeutet, zeitgemäß, dringend, unverzichtbar zu sein. Nie war der Anspruch, die Konkurrenz so hoch, fast alle Menschen in diesem Land können schreiben, tun es gerne, überall und ständig. Unsere Zeit gehört den kurzen Formen, ein Internetforum für Depressive ist intensiver als ein zigster Debütroman über Depressionen, die Werbeprospekte vom Discounter sind lakonischer als mancher Lyrikband, es ist ein gewaltiges Wagnis, Gedichte zu schreiben, zu unserer Zeit. Die Aufgabe besteht nicht mehr darin, Schriften anzulegen, Wörter durchzukomponieren, vielmehr aufmerksam die Fülle des Omnipräsenten zu fixieren, Material zu sammeln, es zu verfremden, selbst wenn es eine bloße Wiederholung außerhalb des pragmatischen Kontextes bedeutet, dem ästhetischen Potential von E-Mails, Posts, Tweets, Bahnhofsdurchsagen, Aufklebern, Plakaten, Hausordnungen, Formularen zur Entfaltung zu helfen.

Das Wort

von Elena Schaetz

das Wort
das den Rahmen sprengt
die Grenze verschiebt
die Zweifel auflöst 

sich dann

zwischen uns schiebt
den Raum ergreift
mich stumm zurücklässt
zwischen Schotter meiner Syntax
und verbranntem Papier
an der Fingerspitze klebt Ruß
auf deiner Zunge mein letztes Wort
bieg die Silbe
bis sie bricht
sprich 
solange es noch geht

Ein Fluss aus Klärschlamm

von Macarena Cortés
Übersetzung von Veronika Reinertshofer

Ein Fluss aus Klärschlamm in Shizouka. Der Vulkan, der im kaspischen Meer ausbrach, liegt in einem See.  Der Schnitt von zwei Geraden ist ein Punkt, während die Gerade eine Summe aus Punkten ist.  Blaue Kerzen für die Ruhe. Der Regen zerstreut die Verschmutzung. Feinstaubpartikel enden in der Kloake.  Zuerst baute man Baumwolle an und danach Pflanzen zur Ernährung. Ich flechte die Weide, um mich nicht zu verlaufen. Die Erde dreht sich schneller und hat 16 Stunden. Ich häufe Staub an, um einen Lichtstrahl aufzunehmen. Kann eine kondensierte Form den Lufteintritt ermöglichen? Überschwemmungen werden immer gewöhnlicher.  Das Erheben des Schattens ist eine Heilmethode. Ich halte jedes Mal die Luft an, wenn ich einen Text lese. Ich atme ein

kleinarbeiten

von Emilia Pequeño
Übersetzung von Johanna Malcher


eine Steinreihe legen
einen Steckling umpflanzen
eine Artischocke essen

in Vollendung

zwei Körper verknüpfen
Kraftfelder
die sich leicht berühren

eine Naht zerreißt
die Oberfläche

die Wunde
die Verbindung
die biegsame Härte des Knorpels
Bindeglied am Knochen

angenagtes, besticktes
Wort
in den Sinn kommt mir ein Fluss
Strom                  Erdenriss

Hohlformen
Einschlüsse
wir können ihn
vernähen



collage bordado, papel vegetal, papel seda, recortes, crea e hilos de algodón
gestickte Collage
planzliches Papier, Seidenpapier, Ausgeschnittenes, Stofffäden

Formen in Valeskas Gesicht

von Rafael Cuevas Bravo
Übersetzt von Veronika Reinertshofer

Ihre Stirn vollendet sich an der Decke des Loft. Die Betrunkenen, die auf der Marmortreppe schmoren, der Süchtige an der zerstörten Ampel: das ist die Rundung ihres Kinns. Sie lächelt gleich dem aus Staub und Eisen gegossen alten Tor. Die Laterne kurz vor dem Fallen ist der Schwindel des Zäpfchens.

Wenn sie traurig ist, pressen ihr die Gespenster der alten Bisse die Zähne zusammen. Sie wiederholen sich in der Rutine der Mahlzeiten: in einer ersten Humita; entzündetes Zahnfleisch vom Saufen, Gewirr auf dem Rancagua-Platz voll mit Sprachen und Rucksäcken und Pinguinen.

In ihrem Grübchen auf der linken Wange rollt sich eine 14-jährige Hündin zusammen, der ich nicht zu stören rate.

Manchmal hat das Gurgeln die Geschwindigkeit von Graffitis, die spiralförmig aufsteigen. Aufmerksam sein, weil sie den Schaum in Farben denkt, wenn die Gefühle bis zur Nase reichen. Wie damals als sie neben den Booten im trunkenen Wellengang mit dem Gitarristen trieb, und sie das Schillern auf der Meeresoberfläche zwischen den Hafenkränen sah.

Unter den breiten und runden Augenbrauen, die sie von ihrem Vater geerbt hat, ruhen zwei Katzen in deren Schnurren eine Taube atmet. Die Einstimmigkeit der Vogelschwärme, die aus dem Gebäude ausströmen, ist ein Geheimnis sowie der Chimangokarakara, der auf nur einen Versuch das Abenteuer des gesamten Konzepts erfasst. Es scheint, als hätte die Familie in einer Pfote Platz und würde dort sterben.

An einem Tag der Läuterung entschied sie sich zu reisen: nach Norden verabschiedete sie die Kälte des Südens, nach Süden, verabschiedete sie ihren Vater. Die asiatischen Augen füllten sich mit Schuld und Palmen.

Koordination

Maia Traine
entreLineas@goethe.de

Top