“Kaffee Morgentau“: Der Film als Gedächtniserweiterung
Die Geschichte der Colonia Dignidad wurde in den letzten Jahren immer wieder filmisch aufgearbeitet, doch der Essayfilm über das ehemalige Haus der Colonia Dignidad in Santiago namens “Kaffee Morgentau: ¿Quiere ir a ver el sótano?/Wollen Sie den Keller sehen?“, nähert sich ihr auf ganz eigene Art und Weise. Der deutsche Autor Wolfgang Bongers und die argentinische Autorin Inti Gallardo benutzen Fragmente von Bildern, Tönen und Zeugenaussagen, um sich der dunklen Vergangenheit zu nähern. Wir haben uns mit den Autor*innen getroffen und mit ihnen über den Film gesprochen, der am 16. März um 19 Uhr im Café Literario im Parque Bustamante, mit anschließender Diskussion, gezeigt wird.
Wie entstand die Idee zu diesem Film?
Wolfgang Bongers: 2010 lernte ich Gonzalo Cáceres während eines Seminars zur Erinnerungsforschung kennen. Er ist Akademiemitglied des Instituts für Urbanistik und Territoriale Studien an der Fakultät für Architektur an der Universidad Católica und zeigte mir 2011 das Haus der Colonia Dignidad, das sich in Campo de Deportes 817 befindet, direkt neben dem Nationalstadion. Dort entstand der Wunsch, dieser Sekte und ihren bis heute unbekannten Einrichtungen in der Hauptstadt, nachzugehen. 2012 begannen wir mit den Filmaufnahmen und der Befragung der Nachbarschaft. Da Gonzalo daraufhin beschloss anderen Aspekten der Geschichte der Colonia Dignidad nachzugehen, arbeitete ich erstmal alleine an dem Filmprojekt weiter, bis sich 2014 Inti Gallardo dem Projekt anschloss.
Es handelt sich hierbei nicht nur um den ersten Film über das Haus der Colonia Dignidad in Santiago, sondern sprengt auch die herkömmliche Machart. Warum habt ihr euch für diese Art der Erzählung entschieden?
Inti Gallardo: Für unsere Arbeit an dem Film haben uns die Dokumentarfilmer Chris Marker, Joris Ivens und Werner Herzog stark beeinflusst. Uns war bewusst, dass wir weder eine klassische Erzählstruktur mit Interviews, noch eine genaue Wiedergabe der Ereignisse haben wollten. Vielmehr dachten wir daran die unterschiedlichen Schichten der Erinnerungen und die Geschichte dieses Hauses widerzuspiegeln, ohne dabei zu experimentell zu werden. Kurzum: Wir wollten die Sinne sprechen lassen und mittels der Bilder und Töne das Gefühl vermitteln, eingesperrt zu sein, eben diesen Ort zu spüren. Dabei haben wir den Film ähnlich wie unser Gedächtnis aufgebaut: Viele kleine Schnipsel setzen sich zusammen, Fragmente des Hauses fügen sich mit Ausschnitten aus Texten anderer Häuser der DINA zusammen. Auch bei den Tonaufnahmen haben wir eine ganz eigene Machart gefunden, da wir im Haus selbst wenig Ton aufgenommen haben. Toto Álvarez, Komponist und Leiter des ACEFALO in Valparaíso hat mit Sebastián Tapia eine Tonspur mit Geräuschfragmenten aufgenommen, die wir wiederum während der Postproduktion in Buenos Aires angelegt haben.
Inti Gallardo: Das Zitieren aus den Büchern hat es uns erlaubt, diese Streifzüge zu machen und dieses Haus als Metapher Chiles vor und nach der Diktatur zu verwenden.
Wie seid ihr auf die Familie Grau gestoßen, die das Haus vor dem Verkauf an die Colonia Dignidad bewohnt hat?
Wolfgang Bongers: Als ich der ehemaligen Leiterin der Theaterschule der Universidad Católica, Milena Grass, die im Übrigen über die Villa Grimaldi im Film, Theater und in der Literatur promoviert hat, von dem ehemaligen Haus der Colonia Dignidad berichtete, sagte sie mir: „Das war das Haus der Familie meines Mannes!“. Dadurch konnten wir den Kontakt zu Antonio Grau und seiner Tante Cristina, die in diesem Haus ihre Kindheit verbracht hat, herstellen.
Wolfgang Bongers: Die Serie handelt von den Verbrechen, die während der chilenischen Diktatur begangen worden sind und basiert auf der Arbeit des Menschenrechtschutzes des Vikariat der Solidarität. Die erste Staffel wurde in den Jahren 2010/11 gedreht, als das Haus noch in den Händen der Colonia Dignidad war. Allerdings waren sie damals schon am Räumen, da sie es an eine Reinigungsfirma verkauft hatten. Der Regisseur dieses Serienkapitels entschied, die Folterszenen im Keller zu drehen, ohne zu wissen, was an jenem Ort vorgefallen war: Die DINA hatte dort ihren Sitz für die Gefangenen, die auf ihren Transport warten mussten. Unvorstellbar aber wahr ist auch, dass die Besitzer dieses Hauses dem Filmteam vor den Dreharbeiten sagten, dass es kein Problem sei, wenn sie Folterszenen vor Ort aufnehmen würden. Paul Schäfer, der Gründer und Führer der Colonia Dignidad flüchtete 1997 ins Exil und hinterließ die Mitglieder der Kolonie mittellos in Chile. Um über die Runden zu kommen beschlossen sie, das Kaffee Morgentau in der Garage des Hauses zu eröffnen, wo sie Produkte aus dem Süden verkaufen würden. Aus demselben Grund haben sie auch das Haus an Film- und Serienproduktionen vermietet.
Wie fühlte es sich an dort zu drehen? Konntet ihr noch Spuren erkennen?
Inti Gallardo: Antonio und Cristina Grau wollten bereits 2012, als es erneut zum Verkauf stand, das Haus besichtigen. Nun waren wir aber gemeinsam dort und haben ihre Bekundungen filmisch verfolgt. Die Angestellten der Reinigungsfirma waren sehr an unserer Arbeit interessiert und berichteten uns, dass sie öfters mal ein komisches Gefühl beim Betreten des Hauses hatten und, dass sie einige Dinge gefunden hatten: Literatur von Mormonen, Kondomschachteln, Mikrofone und Kabel eines Kommunikationszentrums im Keller, sowie Lautsprecher und Kameras, die überall im Haus verstreut waren. Trotz des netten Umfelds der Angestellten kamen wir immer sehr erschöpft von den Dreharbeiten nach Hause.
In der Küche, in der zuvor so viel passiert war, haben wir uns mit Germán Malig und Orlando Lübbert hingesetzt und ihre Zeugenaussagen aufgenommen. Germán Malig ist Kameramann und hat bereits viele Filme über die Sekte gedreht und Orlando Lübbert ist Regisseur des ersten Films über die Colonia Dignidad (Die Kolonie, 1985/86). Mit ihm sind wir anschließend auch in den Keller gegangen und konnten durch die übriggebliebenen Installationen all das Gräuel erneut spüren und filmisch festhalten.
Wolfgang Bongers: Die Mitglieder der Kolonie hatten einen Labrador hinterlassen, Polo, der nun von den Angestellten der Reinigungsfirma versorgt wird. Als uns Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) im Dezember 2016 in dem Haus besucht hat und wir ihm von dem Hund erzählten, meinte er: „Wenn Polo reden könnte…was würde er uns wohl alles erzählen können?“
1961 erreicht die deutsche Sekte Colonia Dignidad („Kolonie Würde“) chilenischen Boden. Bis in die 90er Jahre werden auf ihrem Siedlungsareal Kinder missbraucht und gefoltert. Während der gesamten Militärdiktatur (1973-1989) kollaborieren sie mit Pinochet, professionalisieren die Foltermethoden gegen politische Gefangene und dienen als Operationsbasis des Pinochet-Geheimdienstes (Dirección Nacional de Inteligencia – DINA).
1974 kaufen sie in Santiago de Chile, eine Straßenecke vom Estadio Nacional entfernt, ein Haus und eröffnen Ende der 90er Jahre dort ein Geschäft namens „Kaffee Morgentau“. Dieses Haus wird zum stillen Zeugen der von ihnen begangenen Gräueltaten und der chilenischen Geschichte.
Der Dokumentarfilm widmet sich mittels experimenteller Elemente diesem Haus und den unterschiedlichen Hüllen der Erinnerungen aus den Zeiten während und nach der Diktatur. Bilderreihen des Hauses, Filmmaterial aus den Archiven, literarische Zitate, Fragmente von Stimmen und Tönen kreuzen sich und werden hintereinander montiert.
Kaffee Morgentau wurde bereits in diversen Universitäten in den USA, Nicaragua, Deutschland, Mexico, Kolumbien und Chile, sowie auf Festivals in Italien (Roma Cinema Doc) und Kolumbien (Festival de Cine de Cali) gezeigt.