In Alice in den Städten begleiten wir den Journalisten Phillip Winter und die ihm von ihrer Mutter in Obhut gegebene achtjährige Alice auf der Suche nach deren Großeltern durch das Ruhrgebiet und verstehen, was Identität und Heimat bedeuten – und wie wunderbar stark Kinder sein können. Identitätssuche, die Bedeutung von Familie und ein starker Kinderprotagonist begleiten uns auch in Paris, Texas. Die Begegnung mit dem einsamen Travis in der Weite der texanischen Wüste, untermalt von der Musik von Ry Cooder, gehört zu den großen Momenten der Kinogeschichte. So unterschiedlich beide Filme sein mögen, sie sind Meisterwerke des Roadmovie Genres, das sich durch Wenders‘ Werk zieht wie ein roter Faden, und das er unverwechselbar beherrscht.
In gewisser Weise trifft das auch für Der Himmel über Berlin zu, nur dass die Reisenden in diesem Film Engel sind, die sich mit liebevollem Blick in das Leben der Menschen in der geteilten Stadt begeben. Zu den nachhaltigsten Erfahrungen beim Sehen dieses Films gehört sicherlich, wie Wenders uns in die Köpfe der Menschen hineinhorchen lässt und ihre Gedanken hörbar macht. Wir lernen, um wieviel reicher unsere Wahrnehmung wird, wenn es uns gelingt, dem Sehen zuzuhören, bzw. dem Hören zuzusehen.
Das erleben wir auch in Lisbon Story, in dem der Toningenieur Phillip Winter quer durch Europa nach Lissabon fährt – auch er ein Reisender, wie der gleichnamige, schreibende Phillip Winter in Alice in den Städten, aber einer, der uns die Wirkung von Geräusch, Sprache und Musik auf die Wahrnehmung der Bilder vorführt – oder, wie Wenders es formulierte: „Das Ziel dieses Films ist zu zeigen, dass der Ton helfen kann, Dinge anders zu sehen.“
Wenders‘ Verständnis von Sprache vermittelt sich wiederum in seinem Dokumentarfilm Pina, einer bildgewaltigen Entdeckungsreise, die uns eine besondere Erfahrung zuteilwerden lässt: Gedreht in 3D, holt uns der Film mitten hinein in die mitreißenden Inszenierungen der großen, 2009 verstorbenen Choreographin Pina Bausch. Wir werden selbst zu Beteiligten und begreifen, dass Sprache mehr ist als Buchstaben und Worte. „Tanzt tanzt, sonst sind wir verloren!“, mahnte Pina Bausch ihre Tänzer*innen und wollte damit zum Ausdruck bringen, dass der Tanz eine ganz eigene Sprache ist, mit der Dinge gesagt werden können, die anders nicht gesagt werden könnten. Auch bei Anselm, dem 2023 in Cannes uraufgeführten filmischen Portrait über Anselm Kiefer, einen der bedeutendsten bildenden Künstler unserer Zeit, hat sich Wenders für 3D als künstlerisches Mittel entschieden. Wie bei Pina erleben wir, welche Möglichkeiten Film in 3D bietet, das Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar zu machen.
Liegt es an der ewigen Suche der Protagonist*innen nach ihrer Identität und ihrem unstillbaren Bedürfnis nach Freiheit, dass die Filme uns heute so viel zu sagen haben wie bei ihrem, teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Erscheinen? Möglicherweise hat Wenders in seinem jüngsten, in Japan gedrehten und 2023 in Cannes ausgezeichneten Spielfilm Perfect Days selbst die Antwort auf diese Frage gegeben: Es ist die Geschichte von Hirayama, der vollauf zufrieden scheint mit seinem einfachen Leben als Toilettenreiniger in Tokio. Es ist geprägt von einem strukturierten Alltag und seiner Leidenschaft für Musik und Bücher, und seiner Liebe zu Bäumen, die er fotografiert. Hier sucht der Protagonist eines Wenders-Films sein Glück ausnahmsweise mal nicht in der Ferne, sondern findet es in sich selbst, in seiner eigenen Welt, die auf den ersten Blick klein erscheinen mag, aber in sich doch unendlich weit ist.
Marion Döring