Bonobo

Überlegungen
von Pablo Manzi und Andreina Olivari

Erschienen auf www.tdz.de/chile am 26.09.2023

Donde viven los bárbaros

„Donde viven los bárbaros“ (Wo die Barbaren leben) in der Regie von Pablo Manzi und Andreina Olivari | © Daniel Corvillón

Obwohl unsere Biografien stark durch das unmittelbare Erleben der Diktatur geprägt sind, lässt sich doch sagen, dass ein bedeutender Teil unserer gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen in Chile in die Zeit nach der Diktatur fällt, ein historischer Moment, der häufig als „Transition“ bezeichnet wird. Unsere ersten Theaterarbeiten mit „Bonobo“ hatten viel mit dem zu tun, was wir in dieser Phase des „Übergangs“ erlebt haben. Chile war damals bestrebt, in den Kreis der liberalen Demokratien weltweit aufgenommen zu werden, gleichzeitig verharmloste und beschönigte es aber die Gewalt, die das eigene Land 20 Jahre lang erschütterte hatte. Aus dieser Gleichzeitigkeit heraus etablierte sich ein neues Narrativ, in dem die Sprache der Demokratie vordergründig zur Verschleierung von Widersprüchen diente statt als Hintergrund, vor dem die von der Diktatur erschütterten Grundfesten der Demokratie hätten neu überdacht werden können.

            So gesehen war der „Dialog“ (ein Wort, das man damals überall zu hören bekam) keine radikale Begegnung mit dem „Anderen“ oder gar eine Konfrontation mit Widersprüchen, sondern vielmehr der Versuch, den Diskurs zu kontrollieren und zu entschärfen. Man wollte die von der Diktatur geschaffene soziale Spaltung in der öffentlichen Sphäre unsichtbar machen; dafür bediente man sich eines Narrativs und einer Sprache, die man sich von den liberalen Demokratien der „Ersten Welt“ abgeschaut hatte. Dieses sonderbare Vorgehen erzeugte eine Spannung, die es unserer Meinung nach aufzudecken galt.

            Dialog war zum Werkzeug eines neuen Sprachsystems geworden, das Gegensätze einebnen wollte, statt sie klar zu benennen, und zu diesem Zweck für alles und jedes eine passende Bezeichnung parat hatte: aus „Klassen“ wurden „sozioökonomische Bevölkerungsgruppen“, „Dialektik“ ersetzte man durch „Toleranz“. Der Dialog hatte sich in einen Fetisch verwandelt, in eine Art Perle, die ein neues Bild von Chile zeigen sollte, frei von den gerade noch durchlebten Gräuel – eine Perle, die wie jeder Fetisch die Umstände der eigenen Entstehung verbergen musste, all die Widersprüche, das Blut und die Grausamkeiten, auf denen dieser neue „Frieden“ beruhte.

            Auf das Konto dieses neuen, aus den liberalen Demokratien importierten, Narrativs geht im Fall Chiles auch eine bis heute anhaltende Beschönigung des Neoliberalismus. Eine These (der wir uns anschließen) besagt, dass die radikale neoliberale Logik in Chile nicht mit demokratischen Mitteln durchgesetzt werden konnte. Daher lässt sich der derzeitige pluralistisch-demokratische Diskurs nicht ohne die Erosion des Sozialen begreifen, die in unserem Land Raum für den Neoliberalismus geschaffen hat.

            Mit Bonobos Inszenierungen wollten wir diesen „Dialog“ auseinandernehmen, seine Fetischisierung unterlaufen. Dafür mussten wir die Spannungen und Widersprüche zuspitzen, die von der neuen Sprache der Demokratie (bewusst oder unbewusst) paradoxerweise zugedeckt worden waren. Wir stellten uns eine herausfordernde Frage, um die seitdem alle unsere Stücke kreisen: Wie  äußert sich Gewalt in einem demokratischen Kontext? Dafür war es notwendig, einerseits Figuren und Situationen zu zeigen, in denen Menschen Gutes tun wollen, Menschen, die zutiefst von den Werten der aktuellen, liberalen Formen der Demokratie überzeugt sind; andererseits aber auch die offenen Wunden, die Gewalt und die Grausamkeit darzustellen, die sich direkt unter ihren Augen abspielt.

            Wir wollten, dass unsere Stücke eine Debatte anstoßen, um Widersprüche aufzuzeigen und deutlich zu machen, wie notwendig politische Positionen sind, die über das naive Weltverbessertum und die übertriebene Achtsamkeit hinausgehen, die derzeit in den Diskussionsforen an der Tagesordnung sind. Wir fragen uns immer noch (oder glauben zumindest, dass wir es tun), warum so viel Fremdheit, Schuldgefühle und Unbehagen mit im Spiel sind, wenn es um den Dialog geht. Warum kommt dieser entschärfte, übervorsichtige Dialog in unserem Land nicht recht in Gang? Warum verbinden wir das Wort „Dialog“ mit dem Tod der Debatten und Widersprüche?


 
Übersetzung von Miriam Denger

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