Memoria 1973 – 2023

Überlegungen
von Claudio Fuentes San Francisco

Erschienen auf www.tdz.de/chile am 27.08.2023

Santiago Off | Agitadores

„Agitadores“ in der Regie von Plataforma Mono und Pita Torres, beim Theaterfestival Santiago Off | © Marcelo Segura

Der 11. September 1973 hat in Chile bleibende Wunden gerissen. Angst und Unterdrückung traten damals an die Stelle von Allendes Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit und haben das Land in einen langgezogenen, dunklen Abgrund verwandelt.
            Der Terror der Diktatur und des Militärs verdammte die Dissidenten 17 Jahre lang zum Schweigen und hinterließ tiefe Narben im sozialen und kulturellen Gewebe des Landes. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die vielen Festnahmen, Folterungen, Hinrichtungen, die gewaltsam Verschwundenen – sie haben Herz, Seele und Identität der chilenischen Gesellschaft gebrochen.
            Angesichts der Situation zog die Kunst sich in den Untergrund zurück. Ihr Protest, ihre wehmütige Botschaft der Freiheit und Hoffnung, endete häufig mit Zensur und Exil. Dann kam die Transition und mit ihr all die Reden von Einheit, Fortschritt und Versöhnung, das permanente Bemühen, die Barbarei zu rechtfertigen, eine Endlosschleife aus Leugnen und Relativieren.
            Die Kunst ist ans Licht zurückgekehrt, und versucht das Geschehene aus einer kritischen und poetischen Perspektive heraus zu verarbeiten; sie erhebt ihre Stimme gegen Ungerechtigkeiten und sie hat das nunca más, das „Nie wieder“ zum Leitsatz erklärt. In den darauf folgenden Jahren schloss die politische Klasse einen Pakt, um den Status Quo zu sichern, versteckte sich hinter einem Wirtschaftsaufschwung, als könnte man nahtlos wieder aufbauen, was man gerade noch zerstört hat, als spielten der gerade noch erlebte Tod und die Ungleichheit keine Rolle mehr.
            Schockdoktrin, Neoliberalismus und das Schweigen haben eine scheinbare Stabilität geschaffen, doch von unten, der Basis, den Rändern her, aus der Zivilgesellschaft und ihren Organisationen, der Kunst, aber auch aus der allgemeinen Unzufriedenheit heraus regt sich Widerstand; Millionen Menschen gehen auf die Straße, um einen noch nie dagewesenen Paradigmenwechsel voranzutreiben, sie verteidigen das Prinzip des Gemeinwohls und wollen das Erbe der Pinochet-Diktatur und ihre Verfassung ein für alle Mal beseitigen.
            Nach dem 18. Oktober 2019 gab es kein Zurück mehr, die Bürger hatten genug. Nach langen Jahren der Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Übergriffe markiert dieses Datum einen bedeutenden Einschnitt. Chile forderte einen neuen sozialen Pakt, der auf Dialog, Zusammenarbeit und den Wünschen der Bevölkerung beruhen sollte. Doch die Politik der Angst, die wir überwunden glaubten, setzte sich noch einmal durch, um die Interessen einiger Weniger zu vertreten und demokratische Beteiligungsprozesse im Keim zu ersticken.
            Heute besteht die Hauptaufgabe der Kunst darin, zu betonen, wie wichtig es ist, die Erinnerung wachzuhalten, die Menschenrechte zu achten und mit ihrer Stimme die verzweifelten Rufe zu verstärken, die auch fünfzig Jahre später Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung fordern.

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