WEGE INS SCHREIBEN
Im Buchladen gegenüber habe ich seit Wochen einen wiederkehrenden Leselapsus. Den dort ausliegenden Roman „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon entziffere ich regelmäßig als Rückkehr des Reims, und das muss, wie alle Verleser, etwas zu bedeuten haben. Meine Buchhändlerin meinte, von einer Rückkehr des Reims könne doch wohl nur die Rede sein, wenn dieser einmal ganz weg gewesen wäre – was in ihrem Bewusstsein offenbar nicht der Fall war. Wer jedoch um die Mitte der 1980er-Jahre mit dem Schreiben von Gedichten begann, musste sich, zumindest im universitären Umfeld, erst einmal sagen lassen, was alles nicht mehr ging, und dazu gehörte in erster Linie der Reim, mit ihm zugleich aber das ganze Arsenal tradierter Vers- und Strophenformen. Der 1968 verkündete „Tod der Literatur“ lag noch nicht lange zurück, die klassisch-romantische Tradition galt als ideologisch diskreditiert, weil sie in Form von Feldausgaben an die Front geschickt worden war, und es war nicht einmal ausgemacht, ob man überhaupt wieder von Gedichten sprechen durfte und nicht sicherheitshalber nur von Texten. Andererseits war aber auch der politische Gebrauchswert solcher ‚Texte‘ nicht mehr unumstritten, und die betont kunstlose Neue Innerlichkeit wollte auch schon niemand mehr haben.
Was also konnte man, einmal angefixt von Gedichten, nun anfangen? Der frischeste Impuls kam um 1986 von Thomas Kling. Dessen Montage-Technik und dichterisches Selbstbewusstsein machten auf mich wie auf andere einen starken Eindruck, von hier aus konnte sich eine neue Wertschätzung des Gedichts als Formkunst gewinnen lassen. Mit ihm kam der Hinweis auf die Wiener Nachkriegs-Avantgarde, auf Mayröcker, Jandl, die Wiener Gruppe. Das Ingenieurhafte am Avantgardismus aber machte mich als Leser nicht satt, und ich begann, mich dem Diskreditierten zu öffnen, der lyrischen Tradition, der Dichtung der Romantik und der klassischen Moderne. Hier lag der ganze verbotene Reichtum vor mir, die Lieder Eichendorffs ebenso wie die strengen Strophen Stefan Georges, die Antike-Rezeption in den Elegien und Gesängen Hölderlins und dann die ganze Dialektik der Formzerstörung und Formerneuerung, wie ich sie an Gottfried Benn und T. S. Eliot studierte.
GEBUNDENER ODER FREIER VERS
„Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff“, schreibt Benn. Es wäre irrig, ihn auf bestehende Formen wie Sonett, Ode oder Villanelle zu reduzieren, auch die Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit im Gebrauch des Reims oder eines Metrums ist allein kein Indiz für das Formverständnis eines Autors. Auch in vermeintlich freien Versen kann ein strenges Formbewusstsein walten, ihr Gesetz ist nur von außen weniger leicht zu erkennen. T. S. Eliot lehnte eine Unterscheidung zwischen konventionellen Versen, die an der Perlenschnur des jambischen Pentameters liefen, und dem vers libre strikt ab mit dem Hinweis, dass sich doch in jedem Vers Hebungen und Senkungen auszählen ließen: „There is only good verse, bad verse, and chaos.“ Eliot konnte allerdings noch nicht absehen, in welch zügelloser Weise ein in Zeilen gebrochenes Plapperbedürfnis in späteren Zeiten mit dem Siegel des Gedichts versehen werden sollte. Was ein Vers ist und was nicht, muss sich noch anders bestimmen lassen.
Am Deutschen Literaturinstitut Leipzig legte ich Studenten einmal anonym Zitate von Durs Grünbein vor, in denen dieser den Vers als „Integral der Persönlichkeit“ charakterisiert, als „das am wenigsten leichtfertigste Ausdrucksprinzip“ und das „mit Abstand widerständigste Prinzip gegen die Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Gesagten, das mit der härtesten Resistenz gegen den Verschleiß aller Bedeutungen“. Gefragt, aus welcher Zeit diese Sätze stammen könnten, schwankten die Angaben zwischen 1800 und 1900. Es war wohl die auratische Aufladung des Versbegriffs, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde. Wenn man nun in der heutigen deutschsprachigen Lyrik von einer Wiederbelebung tradierter Formen sprechen will, muss man zugleich fragen, wovon sich eine solche Renaissance abgrenzen könnte: Erstens von der Traditionsvergessenheit, von deren Ausmaß und Tendenz man sich besser kein genaues Bild macht, um nicht ganz den Mut zu verlieren. Zweitens vom Dilettantismus, der in immer neuen Wellen über die Literatur gekommen ist, zuletzt und auf unabsehbare Zeit durch die schrankenlose digitale Verbreitung. Drittens vom Akademismus, der durch die Ausgabe immer neuer „Geht nicht mehr“-Parolen die Vitalität dessen untergräbt, was Stefan George „die ursprüngliche Freude am Formen“ nannte – nicht ganz unberechtigt hat Thomas Kunst der deutschen Gegenwartslyrik Wissenschaftsanbiederung vorgeworfen. Dabei sollte die Dichtung keinem anderen Diskurs verpflichtet sein als ihrem eigenen, dem aber schon.
So könnte ein Minimalkonsens heutiger Dichterinnen und Dichter, die sich neu um alte Formen bemühen, in der Hochschätzung des Verses als Grundbaustein des Gedichts liegen. Was genau einen Satz zum Vers macht, auf welche Weise Syntax, Rhythmus und Klang, Sinn und Magie darin fusionieren, bleibt die Sache jedes einzelnen. Wie Grünbein schreibt: „Im 21. Jahrhundert schreibt jeder Autor an seiner eigenen, nur für ihn selbst gültigen Poetik, und die allerwenigsten tun das explizit. Ihre Methode geht aus dem Schreibprozess hervor, aus den immer neuen Versuchsanordnungen, deren Resultate rückwirkend Maßstäbe bilden, sich als Methode erkennen lassen.“
VERSUCHSANORDNERUNGEN
Wenn von festen Formen die Rede ist, fällt fast jedem zuerst das Sonett ein. In der Shakespeare- wie in der Petrarca-Variante hat das Korsett des Vierzehnzeilers das 20. Jahrhundert gut überstanden, meist aber auf Kosten seiner auratischen Substanz. 1922 legte Rilke in den Sonetten an Orpheus noch einmal eine metaphysisch gestimmte Fortschreibung der Tradition vor, die zugleich eine innovative Lockerung war, indem er Enjambment und metrische Freiheit in die Kunst des Sonetts einführte. Nicht Freiheit, sondern Festigkeit sollte die Form für die Sonette Reinhold Schneiders bedeuten, die während der NS-Zeit als Kassiber im katholischen Widerstand kursierten. Ähnlich wertkonservativ verstand Rudolf Hagelstange die Sonette, die er 1944 als Venezianisches Credo ablegte. Bekennende Sonett-Dichter waren zur gleichen Zeit aber auch der Hitler-Verehrer Josef Weinheber und der Stalin-Verehrer Johannes R. Becher, was zeigt, dass sich Formen von keiner Ideologie alleinvereinnahmen lassen.
Die Nachkriegsavantgarde sah gute Gründe, die Bindung der Form an Weltanschauliches überhaupt zu sprengen. Gerhard Rühm oder Ernst Jandl legten radikal auf das Muster reduzierte, jeder Semantik abschwörende (Anti-)Sonette vor; Rühm verfasste 1968 dokumentarische sonette, in denen er beliebige Zeitungsmeldungen zum Takt eines Metronoms in Fünftakter zerhackte. Aus einem intellektualistischen Antikunstimpuls heraus die hergebrachten Formen vorzuführen, indem man ihnen beliebige Nicht-Inhalte unterschob und so ihre angebliche Hohlheit mit überlegener Geste demonstrierte: Das war für einige Zeit ein beliebtes Spiel, dessen Reize schnell verpufften, ohne dass es je ganz aus der Mode gekommen wäre. Eine intendierte Sperrigkeit, die den Antikunstimpuls aber wieder überwindet, ist den Übertragungen und freien Aneignungen von Shakespeare-Sonetten durch Franz Josef Czernin eigen. Eine wieder ganz anders angelegte, die Sperrigkeit mit Ironie, Jargon und Nonchalance umspielende Schreibweise hat Ann Cotten mit ihren Fremdwörterbuchsonetten (2007) vorgelegt – hier wird auch der Intellektualismus wieder ironisch verabschiedet, ohne dass ganz auf ihn verzichtet würde. In ihrem neuesten Versepos Verbannt! (2016) geht diese Dichterin auf ähnlich ausgebuffte, graziös-schlampige Weise mit der sonst von keinem gebrauchten Spenser-Strophe um, ein Vergnügen höherer Art, zu dessen Wirkungen es gehört, Literaturkritiker vor den Kopf zu stoßen.
VITALER ZUGRIFF
Aus einer ganz anderen, noch ostdeutsch geprägten Tradition kommt Thomas Kunst. In seiner Lyrik steht das Schreiben regulärer Sonette gleichrangig neben freirhythmischen Langgedichten, es ist, bei aller Lockerheit im Ton, ein vitaler Zugriff auf eine alte Form, ohne dass dafür an allen möglichen Diskursschrauben gedreht werden müsste. Insgesamt lässt sich davon sprechen, dass die handwerklich versierteren, mit einer größeren Selbstverständlichkeit sich an tradierten Formen versuchenden Dichterinnen und Dichter nach wie vor aus der ehemaligen DDR stammen. Dort waren eben sehr stark Inhalte sanktioniert, unter den ausgegebenen Parolen fehlte aber diejenige vom „Tod der Literatur“ und so standen literarische Formen dort länger unter Artenschutz. Das prägt die Arbeiten älterer Dichter, die wie Thomas Rosenlöcher oder Richard Pietraß mit großer Eigenständigkeit und untrüglichem Ohr für den Vers ihre gereimten oder ungereimten Gedichte schreiben. Man spürt es auch am frischen Zugriff später geborener Autoren auf den Reim, wie er sich bei so unterschiedlichen jungen Lyrikerinnen wie Judith Zander, Kerstin Preiwuß oder Nadja Küchenmeister zeigt.
VARIATIONEN
Eine Renaissance des Formenrepertoires in der deutschsprachigen Lyrik wird gegenwärtig vor allem mit dem Namen Jan Wagners verbunden, der 2015 für den Gedichtband Regentonnenvariationen den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Wagner pflegt einen so freien wie kunstvollen Umgang mit den vielfältigsten Formen und Mustern, ihre erfindungsreiche Aneignung ist für sein Schreiben konstitutiv. Als Übersetzer aus dem Englischen führt er für seine Poetik meist angelsächsische Gewährsleute an, wodurch er die sehr deutsche und historisch belastete Diskussion über die Legitimation bestimmter Kunstmittel geschickt umgeht. In den Regentonnenvariationen finden sich neben einigen Varianten des Sonetts auch Beispiele für die Sestine, die Stanze und die sapphische Ode, während das Titelgedicht aus einer Reihe von Haiku besteht.
Charakteristisch für Wagner ist jedoch, dass er seine Kunstfertigkeit nicht ausstellt, sondern absichtlich herunterspielt. Dazu dient ihm der fast durchgängige Gebrauch von Halbreimen, die dem ungeübten Ohr entgehen können, dem geschulten aber zur Delikatesse werden. Dazu dienen auch Enjambment, Understatement und eine Vorliebe für profane oder kuriose Sujets, so dass der Gebrauch antiker Maße gerade nicht ins Feierliche führt und in der sapphischen Ode nur anhand der adoneischen Klauseln auffällt, obwohl Hebungen und Senkungen genau eingehalten werden. Dadurch bleibt bei aller Virtuosität und durchaus mutigen Affirmation gegenüber dem literarischen Kanon der Vorbehalt des geistreichen Spiels, das die alten Formen entstaubt und neu in Gebrauch nimmt, ohne sie mit allzu schwerer Fracht zu beladen. Als „Integral der Persönlichkeit“ versteht Wagner den Vers nicht, was man je nach Standpunkt auch bedauern kann. Die gute Nachricht aber ist: Das Schreiben von Gedichten ist aus den ideologischen Selbstkasteiungen vielstimmig wieder ins Offene getreten, es ist auch wieder zur Tradition hin offen, was stets die beste Voraussetzung dafür war, dass es nach vorne weitergeht.