Die einen sind arm, die anderen tun so
Die Eisenbahnstraße im Leipziger Osten gilt als Glasscherbenviertel. Ein TV-Boulevardmagazin hat sie im November 2014 gar als „schlimmste Straße Deutschlands“ ausgemacht. Zwischen Sozialbauten, verfallenen Häusern und Spielstuben haben sich inzwischen Studenten eingerichtet. Ein Besuch beim Prekariat.
Ein Maiabend auf Leipzigs Eisenbahnstraße. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, die Tram wirft alle paar Minuten Menschen auf die Straße: da ist der Mann mit zerrissener Hose und Alditüte in der Hand, da steuert die verschleierte Frau auf die Obstauslage des internationalen Lebensmittelgeschäfts zu, da trinkt ein junger Student mit Röhrenjeans und Strickpulli ein Bier. Es riecht nach Dönerfleisch und sehr starkem Männerparfüm. Ein friedliches Treiben, ein Nebeneinanderherlaufen, und fast schon ist die Tristesse vergessen, die hier vor allem im Winter vorherrscht. Fast vergessen sind die prekären Zustände im Flüchtlingsheim Torgauer Platz, ein paar hundert Meter von hier entfernt, fast vergessen die müden Gestalten, die im Morgengrauen aus den Spielhäusern herauskommen, fast vergessen auch die Drogen, die auf offener Straße gekauft und konsumiert werden, die Schlägereien und Schüsse.
„Die Ausländer kriegen ja genug“
Wer einen Termin bei „Tante E. Straßenkinder e.V.“ vereinbart, darf nicht zu spät kommen, denn Gabi Edlers Zeit ist knapp bemessen. Sie habe gleich noch einen Termin, da gehe es um Geld. Sie hat vor zwölf Jahren das Haus gegründet, in dem obdachlose Jugendliche Essen bekommen und sich duschen können. 16.000 Euro koste das im Monat – angeblich kommt das Geld durch private Spenden und Spenden von Firmen auf. So ganz offen möchte man hier nicht darüber reden. Im Aufenthaltsraum stehen randvolle Aschenbecher auf Plastiktischdecken. Fünf Festangestellte und vier Ehrenamtliche helfen im Schnitt 40 Jugendlichen pro Tag auch bei der Wohnungssuche und Drogenproblemen. Ob denn auch Kinder mit Migrationshintergrund kommen würden? Edler hebt die Augenbrauen, abrasiert und mit einem Stift nachgezogen: „Ne, zu uns kommen keine Ausländer, die kriegen ja genug.“ Ist das jetzt sächsische Fremdenfeindlichkeit, oder nur Gerechtigkeitssinn? Darüber lässt sie sich nicht weiter aus.
So verrucht wie früher ist nicht mehr
Zwei Radminuten entfernt verändert sich die Kulisse. In einer der Nebenstraßen der Eisenbahnstraße findet man das „Nähmaschine und Regenschirm“, ein Café in einem Hausprojekt. Wer die Adresse kennt, geht durch einen Hausflur, von dessen Wänden der Putz bröckelt, direkt in den Garten, wo zur „Volksküche“ an drei Tagen die Woche Studentengrüppchen bei Bier und veganer Minestrone zusammensitzen; oft spielt eine Band auf der kleinen Terrasse. Im Parterre sind Teelichter auf den Tischen verteilt – ein Tisch ist hier eine alte Badewanne mit Brett darüber – und die Regale quellen über von Büchern. Bier 1,50 Euro, veganes Gericht 2,50 – eine heimelige Atmosphäre. Seit gut drei Jahren gibt es das NuR schon und Gründer Sebastian, 30, erstaunt es noch immer, dass es noch keine Kontrollen gegeben hat, denn angemeldet ist hier nichts. Die Polizei hat wohl Wichtigeres zu tun.
Die Klientel hier hat sich im Laufe der Jahre ein wenig verändert, jetzt kommen vor allem jüngere Leute hierher, zwischen 20 und 30, die meisten studieren Geisteswissenschaften. So verrucht wie früher, sei es wohl nicht mehr, sagt Sebastian: „Viele finden es hier inzwischen zu voll und zu kommerziell, seit man im Innenraum nicht mehr rauchen darf. Wir haben da einfach eine Entwicklung mitgemacht: von total schmutzig und improvisiert, hin zu ein bisschen professionalisiert und mehr ausgerichtet auf Umsatz.“ Leben kann Sebastian mit Frau und Kind trotz der billigen Miete von 100 Euro nicht davon. Das Café läuft neben dem eigentlichen Job her. Er arbeitet, weil Leipzig für Geisteswissenschaftler keine Arbeit hat, auf der Baustelle; das sei anstrengend, aber besser, als für irgendeinen Großkonzern zu arbeiten, sagt er.
Der Kapitalismuskritiker mit dem iPhone
Till hätte darauf keine Lust. Wer ihn besuchen möchte, muss von der Eisenbahnstraße über die Brücke fahren und erst einmal den Schlüssel auffangen, den er aus dem dritten Stock herunterwirft. Till, 21, wohnt in einem Wächterhaus und zahlt für sein Zimmer 70 Euro im Monat. Im Schnitt zahlt man für ein Leipziger WG-Zimmer etwa 220 Euro. Wächterhäuser gibt es in Leipzig zuhauf, noch größer als das Angebot ist aber die Nachfrage, für viele ist das die perfekte Wohnlösung: das Haus mitrenovieren und so eine billige Bleibe haben. Till wohnt seit einem Monat hier, ursprünglich kommt er aus Baden-Württemberg. Nächstes Jahr will er sich an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bewerben. Bis dahin sprayt er Graffitis und renoviert die Wohnung. Geld dafür hat er keins, „aber auf e-Bay Kleinanzeigen findet man wirklich alles, ich bin nur mit Bett hier her gekommen und habe mir dann alles zusammen gesammelt. Mit Fahrradanhänger ist das nur eine Frage der Organisation.“ Mit dem Geld müsse er aufpassen, er bekommt keins von seinen Eltern, und auf einen Job hat er keine Lust. „Organisieren“ lassen sich deshalb auch die Lebensmittel: er geht „Containern“, also aus den Mülltonnen von Supermärkten fischen. Legal? Eher im grau-schwarzen Bereich. Und dann zieht Till her über das kapitalistische System und aus der Hosentasche sein iPhone.
Die deutsche Feministin und der Macho aus dem Morgenland
Ein Abend Eisenbahnstraße – das muss sich erst einmal setzen: ein Viertel mit zahllosen Widersprüchen. Während man sich auf der einen Seite Gedanken darüber macht, wo genau die nächste Szeneparty steigt, hört man auf der anderen, dass der Dönerladen Schutzgeld am helllichten Tag übergeben muss. Eins ist klar: hier hat keiner Geld. In der Eisenbahnstraße scheint die Welt in drei Teile auseinanderzufallen: sozialbedürftige Deutsche, die wohl nicht freiwillig hier sind, Flüchtlinge und Migranten, vor allem aus arabischen Ländern, und Studenten, die zwar alle kein eigenes Kapital haben, aber doch Eltern, die im Notfall herbeieilen.
Zurück im NuR ist es dunkel geworden. Sebastian erzählt: „Zu uns kommen Syrer, die von linken Flüchtlingsvereinen eingeladen wurden; aber das Laufpublikum von der Eisenbahnstraße fühlt sich hier nicht wohl. Wir hatten anfangs noch die idealistische Idee, alle aus dem Viertel miteinzubinden, mussten aber lernen, dass das wohl nicht funktioniert. Die deutsche Feministin wollte letztendlich dann doch nicht neben dem Macho aus dem Morgenland sitzen.“ Sebastian drückt die selbstgedrehte Zigarette aus. „Klar, man kann sich dafür einsetzen. Aber das erfordert so viel Kraft, die ich nicht habe.“
Er steht für ein Nutzungskonzept für vorher teilweise Jahrzehnte leerstehende Immobilien, in denen auf der Grundlage besonderer vertraglicher Vereinbarung Nutzer einziehen können, die sich im Tausch gegen Wohn- und/ oder anderweitige Nutzungsmöglichkeiten zum Erhalt bzw. zur Sanierung des Gebäudes verpflichten.
Die schlecht vermietbaren, bislang vernachlässigten und nun zu neuem Leben erweckten und neuem Nutzen zugeführten Objekte liegen in der Regel an exponierten Stellen und sind öffentlichkeitswirksam als „Wächterhaus“ gekennzeichnet.
Quelle: wikipedia
studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Nach ihrem Umzug dorthin wohnte sie ein halbes Jahr auf der Eisenbahnstraße.