Nimm einen, zahl zwei!
Im Wiener Kulturcafé Tachles bezahlen Gäste einen zweiten Kaffee, obwohl sie diesen nicht trinken werden. Das Prinzip des „aufgeschobenen Kaffees“ hilft bedürftigen Fremden, die sich keinen Kaffeehausbesuch leisten können.
Das Prinzip „Caffè sospeso“ (auf Deutsch: aufgeschobener Kaffee) ist einfach, zeigt aber große Wirkung: Man bezahlt einen Kaffee für sich und einen für jemand anderen, der ihn sich nicht leisten kann. Die Kellner notieren die aufgeschobenen Heißgetränke auf einer Tafel, die an Bedürftige ausgeschenkt werden, wenn diese danach fragen. Im Wiener Café Tachles funktioniert dieses System bereits seit mehr als zwei Jahren, erzählt Geschäftsführer Daniel Landau. Er hat als einer der ersten in Österreich diese Aktion in sein Kaffeehaus gebracht. Bereits nach ein paar Tagen war für ihn klar, das Angebot auszuweiten. Seither kann man neben Kaffee auch alle anderen alkoholfreien Getränke sowie Essen „sospeso“ bezahlen.
Von Neapel aus in die Welt
Die Idee des Caffè sospeso stammt ursprünglich aus Neapel. Kaffee stelle dort nicht nur ein Genussmittel dar, sondern werde als Grundrecht des Menschen angesehen, ist auf diversen Internetseiten zu dem Thema zu lesen. Aus diesem Grund hätten es sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert jene, die es sich leisten konnten, angewöhnt, immer zwei Kaffees zu bezahlen. Einen, den sie selbst tranken und den anderen für eine Person, die kein Geld für Kaffee hat, aber trotzdem in ein Kaffeehaus kam. Mittlerweile wird das weltweit praktiziert, nicht nur mit Kaffee.
Dass das Prinzip des aufgeschobenen Kaffees wirklich funktioniert, ist Landau ein besonderes Anliegen. „Niemand legt sich in die soziale Hängematte, die Menschen, die danach fragen, brauchen es in irgendeiner Art und Weise. Missbrauch wird nicht betrieben“, ist er überzeugt. Im Tachles muss auch niemand begründen, warum er etwas bereits Bezahltes konsumieren möchte. Man müsse keinen Sozialhilfenachweis bringen, wie oft angenommen wird. Das Angebot richte sich nicht nur an Sozialhilfeempfänger oder Obdachlose. „Es ist auch für Menschen da, die sich einen Kaffeehausbesuch einfach nicht leisten können, obwohl sie arbeiten“, sagt Landau. Eine alleinerziehende Mutter sei etwa als eine der Ersten gekommen, es war ihr erster Kaffeehausbesuch seit fünf Jahren. In Wien gehört ein Kaffeehausbesuch untrennbar zum gesellschaftlichen Leben, er ist ein Stück Tradition und Lebensgefühl. Man geht zur Erholung, zur Unterhaltung, zum Lesen, zum Sehen oder Gesehen-Werden ins Kaffeehaus, aber vor allem, um Kaffee zu trinken. Doch der ist teuer. Eine Melange kostet im Durchschnitt in der österreichischen Hauptstadt 3,50 Euro.
Mehr sospeso-Bestellungen im Winter
Das Kulturcafé Tachles ist an diesem Tag noch relativ schwach besucht, die sospeso-Tafel zeigt einen Kaffee. Nach Feierabend kommen mehr Gäste in das Lokal, mit ihnen auch zwei junge Zeitschriften-Verkäufer. Während das Mädchen an einem freien Tisch Platz nimmt, versucht der Junge den „Augustin“, eine österreichische Straßenzeitung, zu verkaufen. Ein Mann am Nebentisch winkt ihn heran: „Gib mir eine Zeitung und bestell dir auch gleich noch einen Kaffee.“ Ein Kaffee muss nicht zwingend im Voraus bezahlt werden, Einladungen können auch direkt ausgesprochen werden. Die Handlung zählt.
Im Winter werde tendenziell mehr aufgeschrieben, vor allem Suppen und Tees. Aber auch im Sommer gebe es selten eine leere Tafel, erzählt Landau. Und sollte es dennoch vorkommen und jemand offensichtlich gerne einen Kaffee haben wollen, wird er dennoch einen bekommen. „Das hält ein Lokal aus“, ist sich der Dirigent, Betriebswirt und Diplompädagoge sicher. Ebenso wie es ein Lokal aushalte, dass Menschen kommen, die unangenehm riechen, und etwas Aufgeschobenes bestellen. Landau hat keine Angst, dadurch Stammgäste zu verlieren. „Wir können zwar keine Sozialarbeit leisten, aber die Menschen sollten trotzdem nicht das Gefühl haben, dass sie hier nicht erwünscht sind.“
Sospeso auf Dienstleistungen ausweiten
Daniel Landau, der mehrere Bildungsinitiativen gestartet hat, ab Herbst auch in die Politik wechselt und bei den Wiener Gemeinderatswahlen kandidiert, hat Gefallen an der Idee gefunden. Ideen und Konzepte hat er viele. So soll etwa ein Club sospeso entstehen, der das Prinzip zum Beispiel auf Friseurbesuche oder den Besuch kultureller Veranstaltungen ausweitet. „Der Gedanke, dass ich unbekannterweise für jemand anderen in Zukunft etwas Kleines gebe, wird weiter wachsen“, ist sich Landau sicher.
Im Laufe des Abends wächst auch das Angebot auf der sospeso-Tafel. Eine Cola, ein Schinken-Käse-Toast und ein Saft werden nach und nach von den Kellnern notiert und stehen zur Abholung bereit.