Gender-Bewusstsein

GENDER-BEWUSSTSEIN/ BLICKPUNKT GESELLSCHAFT UND VIELFALT iNTRO © Goethe Institut

Wenn man an die Popularität von Karten und Infografiken in den heutigen sozialen Netzwerken denkt, waren die Gründerinnen von „HarassMap“ ihrer Zeit voraus: „Unsere Idee war, das Problem der sexuellen Belästigung von Frauen zu visualisieren, damit es nicht mehr geleugnet werden konnte“, sagte die damalige Marketing-Chefin Alia Soliman. Mit Erfolg: Aus einer kleinen Website wurde später eine preisgekrönte App, über die international berichtet wird.

Denn zweifellos eines der wichtigsten gesellschaftlichen Themen des vergangenen Jahrzehnts in Ägypten war die weit verbreitete sexuelle Belästigung von Frauen. Zwar flammte das Thema medial immer wieder auf, von den Berichten über Gruppenvergewaltigungen am besetzten Tahrirplatz über die Zeugnisse betroffener Ägypterinnen unter dem Hashtag #metoo bis zuletzt zu den Protesten an der Amerikanischen Universität in Kairo, doch die Übergriffe sind im Alltag der allermeisten Frauen bis heute allgegenwärtig. In einer groß angelegten Studie des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte aus dem Jahre 2008 sagten 83 Prozent der befragten Ägypterinnen und 98 Prozent der Ausländerinnen, dass sie sexuell belästigt würden. Hinterherpfeifen und anzügliche Bemerkungen auf der Straße, gaffen und grapschen in der überfüllten Kairoer Metro – und nicht wenige Frauen erleben noch Schlimmeres. Wer Ägypten seither wiederholt besucht hat, mag zwar eine Besserung festgestellt haben, gelöst ist das Problem jedoch bei Weitem nicht.
HarassMap ist nur eine von vielen NGOs, das sich in Ägypten für die Stärkung von Frauenrechten und für Gendersensibilität einsetzt. Unterstützung liefert dabei auch das Goethe-Institut Kairo, etwa mit sicheren Räumlichkeiten oder der Einrichtung von Netzwerktreffen mit anderen Organisationen.
2014 wagte sich das Goethe-Insitut an das heikle Thema der Frauenrolle in Ägypten und startete mit einem ersten „Female Empowerment“-Projekt, einer Bildungsreise junger Ägypterinnen nach Deutschland. Es war ein durchaus provoziertes Aufeinanderprallen der Kulturen: Hier die Ägypterinnen, von ihren Familien häufig in die traditionelle Frauenrolle gedrängt, dort die deutschen Gastgeberinnen, die ihren Kampf für Gendergerechtigkeit zum Teil an ganz anderen Fronten führten. Die Konfrontation mit den emanzipierten Deutschen war für die Ägypterinnen, von denen zwei bis dato nicht einmal einen Reisepass besaßen, bisweilen tiefgreifend und emotional. Eine junge Teilnehmerin, die zu Beginn der Reise über den Druck der ägyptischen Gesellschaft, ein Kopftuch zu tragen, sprach, legte ihres zum Ende des Aufenthaltes das erste Mal seit ihrer Jugend in der Öffentlichkeit ab.
Der Erfolg der Bildungsreise war der Startschuss für eine Reihe von Projekten, die das Goethe-Insitut seither umgesetzt hat. Ihre Namen spiegeln ein wenig die Entwicklung der öffentlichen Debatte wider: Von „Female Empowerment“ über „Frauen- und Genderprojekte“ sowie „Gender-Bewusstsein“ hin zu „Blickpunkt Gesellschaft und Vielfalt“, wie es seit 2020 heißt. Auch wenn sich der Fokus ein wenig zu Genderidentitäten im Allgemeinen verschob, blieben die Kernideen dieselben: Zivilgesellschaftliche Bildung, die Schaffung eines sicheren Raums für Diskussion und Meinungsaustausch und inklusive, gender-sensitive Rahmenbedingungen für Trainings, Bildungsangebote oder Veranstaltungen, sodass insbesondere auch Frauen trotz familiärer Verpflichtungen oder kultureller Restriktionen an den Projekten teilnehmen können.
Im Zentrum der Projekte stehen vor allem Trainings und Workshops zu Genderfragen und Women Empowerment, die in ganz Ägypten gemeinsam mit lokalen Partnern durchgeführt werden. In Oberägypten fern der Metropolen Kairo und Alexandria, konzipiert die Psychologin Hoda Kandil solche Trainings. Kandil nahm einst selbst an einem Workshop des Goethe-Instituts über zivilgesellschaftliche Bildung teil, und arbeitet nun als selbstständige Trainerin für Gender-Bewusstsein in der besonders traditionellen und konservativen Region. „Gender wird häufig als bloßes Verteidigen von Frauenrechten missverstanden“, sagt Kandil. „Dies versuchen wir zu ändern, indem wir hervorheben wie wichtig auch die Beteiligung der Männer ist – insbesondere, wenn es darum gehen soll, die Rollenverteilung innerhalb einer Gesellschaft neu zu verhandeln.“ Für Kandil ist Gender nicht nur ein Konzept, sondern ein Lebensstil, der bei den kleinsten Dingen begänne: „Zum Beispiel sollten in einigen Familien in Oberägypten die Männer zuerst mit dem Essen beginnen und die Frauen erst dann essen, wenn die Männer fertig sind. Ein anderes Beispiel ist, wie in der ägyptischen Gesellschaft Jungen erzogen werden und ihnen beigebracht wird, nicht zu weinen, weil es etwas für Frauen und ein Zeichen von Schwäche ist.“
Gerade im ländlichen Raum sollen die Teilnehmenden ermutigt werden, sich hinterher in ihren lokalen Gemeinschaften zu engagieren und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Denn der Weg zu Geschlechtergerechtigkeit ist hier noch weiter und steiniger als in den großen Städten. Geht es nach dem Goethe-Institut, dürfen neue NGOs und Aktivistinnen, die Nachfolgegeneration von HarassMap sozusagen, gerne aus den Provinzen kommen.


 

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