Deutsch-Griechische Filmdialoge über die Vergangenheit und die Zukunft
HISTORY PROJECTED
Geschichte, aber als Projektion
Filmvorführungen in Zusammenarbeit mit Ethnofest
Im Laufe des Jahres 2024 stellen wir eine Reihe von griechischen und deutschen Kurz- und Langfilmen vor. Und präsentieren so ein breites Spektrum von Dialekten und Dialektiken, unterschiedlichsten Zugriffen auf die gemeinsame Geschichte, Mikroerzählungen und ein so schräges wie polyphones Stimmengewirr, außerdem Studien zur Mythologie und Rollenspiele mit den Masken der nationalen Identität. Es entstehen Puzzles aus Fragmenten, die im Archiv geborgen wurden, während die Distanz zu den historischen Quellen durch entweder laute oder unsichtbare künstlerische Gesten überbrückt wird. So eröffnen sich überraschende und grenzüberschreitende Lesarten des Gesehenen. Das Vergangene wird in die Gegenwart geholt und auf die Zukunft projiziert. Es ist die Sprache des Kinos, die die Geschichte zur Sensation, einem Instinkt und zur kollektiven Erfahrung macht.
Episode 5: Frauen antworten
Fournoi, eine Frauengesellschaft, Alinda Dimitriou & Nikos Kanakis, 1982, 43΄
(Auf Griechisch mit englischen Untertiteln)
Winter adé, Helke Misselwitz, 1988, 116΄
(Auf Deutsch mit griechischen und englischen Untertiteln)
Beide Filme wurden in den unruhigen 1980er Jahren gedreht, und zwar in Schlüsselmomenten in der der politischen Geschichte ihrer jeweiligen Produktionsländer: der eine nach dem “Wind of Change”, den die erste sozialistische Regierung in Griechenland versprach, nachdem das Obristen-Regime gestürzt worden war; der andere unmittelbar nach dem deutschen Mauerfall. Hier wie dort stehen die Mikrogeschichten von Frauen im Zentrum, die in einer Art Randzone oder auf der Kehrseite der offiziellen Geschichte leben: in Ostdeutschland und auf einer ägäischen Insel, die einst ein Ort des Exils gewesen war. Der Titel des Programms ist eine Hommage an einen Kurzfilm, den der französische Rundfunk anlässlich des Internationalen Jahrs der Frau [1975] bei Agnès Varda in Auftrag gegeben hatte.
19:00
Fournoi, eine Frauengesellschaft
Alinda Dimitriou & Nikos Kanakis
Die Insel Fourni auf Ikaria: Hier führt ein Anthropologe eine Untersuchung durch. Wie in allen Filmen von Alinda Dimitriou beobachtet er ohne Fragebogen das Leben der Bewohner, ihre Tätigkeiten und ihre täglichen Gespräche. Im Stile einer Feldforschung macht die filmische Beschreibung die Gesellschaft von Fourni mit ihren Erinnerungen und ihren Sorgen lebendig. Unter ihrer Oberfläche werden aber bestimmte strukturelle Grundprinzipien sichtbar: die Arbeitsteilung, die Geschlechterbeziehungen usw. Wie in der gesamten Ägäis ist die Stellung der Frauen in dieser Region besser ist als die der Frauen auf dem griechischen Festland. Es ist kein Zufall, dass griechische Frauen, die im 21. Jahrhundert eine führende Rolle spielten, Kapitäninnen waren.
Ein Jahr vor dem Mauerfall reist die Dokumentarfilmerin mit der Bahn von Süd nach Nord durch die DDR. Sie will erfahren, „wie andere gelebt haben und wie sie leben möchten“. Auf ihrem Weg trifft sie unterschiedlichste Frauen, die auf ihre je eigene Weise, teils freiwillig, teils notgedrungen, versuchen, ihre persönliche Freiheit zu. Auf ihrer Fahrt von der sächsischen Industrie- und Bergarbeiterstadt Zwickau, aus deren Nähe Helke Misselwitz stammt, in den Norden bis an die Ostsee, trifft die Regisseurin Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialen Prägung. Die Landschaften und Architekturen Ostdeutschlands, gefilmt in strengem Schwarzweiß, bilden den Hintergrund. Die Frauen erzählen von ihrem Alltag, ihren Nöten und Hoffnungen. Ihre unverstellten Aussagen und Beobachtungen fügen sich zu einem Kaleidoskop aus Erinnerungen, Sehnsüchten und Enttäuschungen, das das Leben und die Stimmung im letzten Jahr der DDR auf plastische Weise beschreibt. Als Helke Misselwitz auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche im Herbst 1988 Winter adé vorstellte, war das eine Sensation. Noch nie vorher waren Menschen in der DDR derart offen und gleichzeitig selbstverständlich vor der Kamera aufgetreten, um von ihren mentalen und praktischen Lebensumständen zu erzählen. Der Film mit dem programmatischen Titel markierte die Unhaltbarkeit des offiziell repräsentierten Meinungsbildes. Er verwies auf einen deutlichen Stimmungswechsel im Osten Deutschlands, der sich ein Jahr später – wiederum in Leipzig – endgültig Bahn brach.
Alinda Dimitriou wurde 1933 in Athen geboren und studierte Filmregie an der Stavrakos-Schule. Parallel zur Organisation von Filmvorführungen in den Jahren 1970 bis 1975 nahm sie an Kurzfilmseminaren teil und schrieb und übersetzte Texte für Filmzeitschriften. Sie ist Autorin des Buches Short Films Filmography (1939–1979) und veröffentlichte 1992 das Short Films Lexicon. Sie führte bei mehr als 50 Dokumentarfilmen Regie. Für den Film Birds in the Mire gewann sie 2008 den Publikumspreis des Internationalen Filmfestivals Thessaloniki. Ihre Trilogie Birds in the Mire, Life on the Rocks und The Girls of the Rain, die vom Publikum des Thessaloniki-Filmfestivals begeistert aufgenommen wurde, beleuchtete die Lebendigkeit und Stärke der weiblichen Seele anhand von persönlichen Berichten und Zeugnissen.
Nikos Kanakis studierte Film an der London Film School. 1970 begann er seine Karriere in Griechenland als Cutter und Regieassistent bei Kurz- und Spielfilmen. Ab 1975 führte er dann selbst Regie und war Cutter bei Dokumentarfilmen. In den Jahren 1981-82 führte er Regie bei einer Serie von etwa 40 Dokumentarfilmen unter dem Titel Griechenland der fünf Weltmeere. 1985 führte er Regie und schnitt den Film The Necklace, den er auch produzierte und schnitt. 1987 führte er Regie und produzierte den Dokumentarfilm Markos Vamvakaris. 1990 führte er Regie und produzierte die Fernsehserie I Want to Meet. Im Jahr 1994 führte er bei dem Spielfilm Fenster zum Westen Regie. Seit 1995 hat er griechische Kinofilme und fünf internationale Koproduktionen mit Zypern, Bulgarien und der Türkei geschnitten und produziert. Als Cutter hat er insgesamt an fast 100 Kurz- und Spielfilmen gearbeitet. 15 Jahre lang unterrichtete Kanakis Filmtheorie und Schnitt an der Filmschule "Lycurgos Stavrakos". Er starb im Jahr 2024.
Helke Misselwitz gilt als eine der wichtigsten deutschen Dokumentarfilmerinnen. Sie wurde 1947 in Planitz/Zwickau geboren. Nach dem Abitur machte sie eine Lehre als Tischlerin und Physiotherapeutin und arbeitete anschließend neun Jahre lang als Regieassistentin und Regisseurin beim DDR-Fernsehen. Von 1978 bis 1982 absolvierte sie ein Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Misselwitz’ Antrag, in das DEFA-Studio für Spielfilme aufgenommen zu werden, wurde abgelehnt, und so nahm sie andere Jobs an, während sie als freischaffende Künstlerin kurze essayistische Stücke für das DEFA-Studio für Dokumentarfilme drehte. 1985 wurde sie als Meisterschülerin an der Ostdeutschen Akademie der Künste aufgenommen. Von 1988 bis 1999 war Misselwitz als Regisseurin im DEFA-Studio tätig. Bei ihrem ersten Spielfilm, Herzsprung, führte sie 1992 Regie, gefolgt von Engelchen im Jahr 1996. Sie ist Professorin für Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und Mitglied der Akademie der Künste.