Deutsch-Griechische Filmdialoge über die Vergangenheit und die Zukunft
HISTORY PROJECTED
Geschichte, aber als Projektion
Filmvorführungen in Zusammenarbeit mit Ethnofest
Im Laufe des Jahres 2024 stellen wir eine Reihe von griechischen und deutschen Kurz- und Langfilmen vor. Und präsentieren so ein breites Spektrum von Dialekten und Dialektiken, unterschiedlichsten Zugriffen auf die gemeinsame Geschichte, Mikroerzählungen und ein so schräges wie polyphones Stimmengewirr, außerdem Studien zur Mythologie und Rollenspiele mit den Masken der nationalen Identität. Es entstehen Puzzles aus Fragmenten, die im Archiv geborgen wurden, während die Distanz zu den historischen Quellen durch entweder laute oder unsichtbare künstlerische Gesten überbrückt wird. So eröffnen sich überraschende und grenzüberschreitende Lesarten des Gesehenen. Das Vergangene wird in die Gegenwart geholt und auf die Zukunft projiziert. Es ist die Sprache des Kinos, die die Geschichte zur Sensation, einem Instinkt und zur kollektiven Erfahrung macht.
EPISODE 1
27.03.2024 Episode 1: Geschichte und Mythos Laokoon und Söhne. Die Verwandlungsgeschichte der Esmeralda del Rio, Ulrike Ottinger, 1972/73, 50΄ In der Zeit der Griechen, Lakis Papastathis, 1981, 98΄
Der Versuch, sich antike griechische Mythen anzueignen, führt in den unerschöpflichen Fundus der modernen Geschichte, und zwar in zwei unterschiedlichen filmischen Gesten der Erkundung zeitgenössischer europäischer und nationaler Identität. Einerseits kokettiert das Spielfilmdebüt der Pionierin des Neuen Deutschen Films, Ulrike Ottinger, mit Camp, dionysischem Geist und Dadaismus, um so ein einzigartiges Kunstwerk experimenteller Ethnographie zu schaffen. Der erste abendfüllende Spielfilm von Lakis Papastathis – einer der einflussreichsten Figuren in der Entwicklung des griechischen Dokumentarfilms – folgt dagegen dem abenteuerlichen Weg einer Entführung um die Jahrhundertwende und entfaltet eine einzigartige Vision der Prägung der Gegenwart durch die Vergangenheit. Schließlich bedeutet das griechische Wort für Tradition Gabe, wie auch Zugeständnis oder Aufgabe, als auch Erbe oder Übergabe.
18:30
Laokoon und Söhne. Die Verwandlungsgeschichte der Esmeralda del Rio
Laokoon und Söhne, Ulrike Ottinger, 1972/73
Als Witwe Olimpia Vincitor begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Unter dem Namen Linda MacNamara triumphiert sie als Schlittschuhläuferin in einem Zweikampf gegen die Fallschirmdame Kakalia Katzen. Tristan Tzara erscheint zu den Ritualfesten der Damen von Laura Molloy und wird Direktor der fahrenden Zirkustruppe Laokoon und Söhne. Der Tod einer Künstlerin und die Zerstörung ihres Ateliers durch sieben Erinnyen, die in der Gestalt von Feuerwehrleuten aus dem Wasser auftauchen, stehen in direkter Beziehung zum Erscheinen des Zirkus. Endlich bringt die Verwandlung Esmeralda del Rios in eine neue männliche Rolle, die des Gigolos Jimmy Junod, einen Hauch von Abenteuer in das bescheidene, aber ausgefüllte Leben von Veronika Dalton, die den Namen Hubert Dupavillon angenommen hatte. Aber der Steckbrief Jimmy Junods ist der Polizei der ganzen Welt bekannt.
19:30
In der Zeit der Griechen
On the Time of Hellenes, Lakis Papastathis, 1981
Im Jahr 1900 entführt eine Gruppe von Banditen einen jungen Bourgeois und versteckt sich in den Bergen, um Lösegeld für seine Freilassung zu fordern. Der junge Mann freundet sich mit dem Anführer der Banditen an und stellt fest, dass das Leben dieser Banditen viel authentischer ist als sein eigenes. Ein Film mit Anspielungen auf Vizyinos, Papadiamantis, die Volkskultur: die alten Schriften, die mythischen Figuren, die romanischen Traditionen und Rituale, die tiefe Religiosität, immer mit der rauen griechischen Berglandschaft im Hintergrund. Papastathis, der auch den Kontrast zwischen dem Banditentum als Volksaufstand und der Bildung des modernen bürgerlichen Staates skizziert, zeigt schließlich, dass ältere Formen der Volkskultur in gewisser Weise immer schon mit modernen Formen der Kultur koexistiert haben.
Ulrike Ottinger ist seit ihrem Debüt Anfang der 70er Jahre eine einzigartige und provokative Stimme im deutschen Kino. In den letzten 40 Jahren hat sie 26 Filme gedreht, darunter abendfüllende Spielfilme und experimentelle Dokumentarfilme. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Publikumsjury in Montréal, den Bundesfilmpreis und den Preis der deutschen Filmkritik. Ihre Filme wurden in vielen Retrospektiven gezeigt, unter anderem in der Cinémathèque française und dem Centre Pompidou in Paris, der Reina Sofía in Madrid und im Museum of Modern Art in New York. Ulrike Ottinger war während ihrer gesamten Karriere auch als Fotografin tätig und präsentierte ihre filmischen und fotografischen Arbeiten unter anderem auf der Biennale di Venezia, der Documenta und der Berlin Biennale. Sie hat auch als Theaterregisseurin und Ethnografin gearbeitet und mehrere Bücher veröffentlicht.
Lakis Papastathis (1943–2023) wurde in Volos geboren und wuchs auf Lesbos auf. Seinen ersten Kurzfilm (Cases of No) drehte er 1965, 1970–71 arbeitete er als Regieassistent mit Alexis Damianos bei den Dreharbeiten zu Evdokia zusammen. Sein dritter Kurzfilm (Letters from America) gewann 1972 den ersten Preis auf dem griechischen Filmfestival von Thessaloniki. Er drehte vier Spielfilme: In der Zeit der Griechen (1981), Theophilos (1987), The Only Journey of His Life (2001) und Journey to Mytilene (2010). 1970 gründete er zusammen mit Takis Hatzopoulos die Firma Cinetic, die die für ihr Historisches Archiv (1975–1976), (1990–1997), Die Wiederbelebung des antiken Dramas (1998) und insbesondere für die Kulturserie Paraskinio (1976–2013), die am längsten laufende Sendung im griechischen Fernsehen, bekannt wurde. Als Prosaautor veröffentlichte er fünf Sammlungen von Kurzgeschichten.