Interview
„Autoritäre Versuchungen“: Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer

AfD-Anhänger bei einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg im August 2019.
AfD-Anhänger bei einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg im August 2019. | © imago images/ ZUMA Press

Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe. Er war Gründer sowie von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, wo er auch heute noch forscht. 2018 erschien sein Buch mit dem Titel „Autoritäre Versuchungen“, das mittlerweile in der 3. Auflage vorliegt.[1] Darin untersucht er, warum sich rechte Parteien, Bewegungen und Einstellungen in der deutschen Gesellschaft im Aufwind befinden.  

Herr Heitmeyer, in Ihrer vielbeachteten Analyse untersuchen Sie den Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft und nehmen dabei längere Entwicklungslinien in den Blick. Warum erhalten rechtspopulistischen Parteien, Bewegungen und Positionen ausgerechnet jetzt bzw. in den letzten Jahren so viel Zuspruch? 

Es kommen mehrere Dinge zusammen. Deshalb lassen sich die Entwicklungen nicht eindimensional aus dem Parteiensystem erklären. Man muss weiter ausgreifen. Durch die immer weiter ausgedehnte neoliberale Wirtschaftspolitik im rasanten Globalisierungsprozess hat sich ein autoritärer und anonymer Finanzkapitalismus herausgebildet und große Kontrollgewinne gegenüber nationalstaatlicher Politik erzielt. Er konnte seine Prämissen zunehmend ungehindert durchsetzen, weil die nationalstaatliche Politik immer mehr Kontrollverluste hinnehmen musste, um etwa wirkungsvoll gegen wachsende soziale Ungleichheit vorzugehen. Dies hat zu sozialen Desintegrationserfahrungen und Ängsten vor Statusverlusten in Teilen der Bevölkerung geführt. Damit haben sich individuelle Kontrollverluste über die eigene Biografie und Verunsicherungen verbunden. Eine wichtige Folge war, dass sich der Blick auf das demokratische System verändert hat. Ich nenne das Demokratieentleerung. Das heißt, der Apparat funktioniert, aber das Vertrauen erodiert.
Meine These im Jahr 2001 war, dass der Gewinner dieses Prozesses ein rabiater Rechtspopulismus sein würde. Die heutige Entwicklung in Deutschland und Europa kommt also nicht aus dem Nichts, sondern hat sich lange abgezeichnet. 
 
Sie haben die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre auf die Formel „entsicherte Zeiten“ gebracht. Bedrohungen führen jedoch nicht automatisch zu rechtspopulistischen Haltungen. Was macht rechtspopulistische Positionen plausibel bzw. anschlussfähig? 

Nun, die Formel der „entsicherten Zeiten“ unterscheidet zwei Prozesse. Der eine umfasst eher schleichende Prozesse der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, also, wohin wird sich diese Gesellschaft entwickeln. Der zweite Prozess enthält Krisen, die wir zwischen 2000 und 2020 erlebt haben – und die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der Corona-Krise können wir ja nicht mal ansatzweise prognostizieren. Krisen sind immer an zwei Bedingungen gebunden. Erstens, dass die gewohnten politischen, ökonomischen und sozialen Routinen zur Regulierung nicht mehr funktionieren. Zweitens, dass die Zustände vor den Ereignissen nicht wieder herstellbar sind. Solche Krisen begannen mit „9/11“, als islamistischer Terror in der westlichen Welt auftauchte. 2005 hatten wir in Deutschland die „Hartz-IV“-Krise mit den sozialen Auswirkungen für Teile der Bevölkerung. 2008-2009 die Banken- und Finanzkrise. 2015/2016 mit der Flüchtlingsbewegung dann eine kulturell-politische Krise.
Vor diesem Hintergrund entwickeln sich autoritäre Einstellungen auf der Suche nach Sicherheit und Kontrolle. Dabei muss man betonen, dass die Flüchtlingsbewegung nicht die Ursache, sondern nur ein Beschleunigungsfaktor dieser Entwicklung war. Auf diesem Hintergrund von Kontrollverlusten setzen dann die Bewegungen und Parteien an, die ich nicht „rechtspopulistisch“ nenne, sondern im deutschen Fall ist es ein „Autoritärer Nationalradikalismus“, der auch nicht im Ganzen rechtextremistisch ist. Das macht ihn für breitere Bevölkerungsgruppen attraktiv, weil er die Wiederherstellung von Kontrolle verspricht: „Wir holen uns unser Volk und unser Land zurück“. Er suggeriert einen „Systemwechsel“ mit einem autoritären Gesellschaftsmodell, deutscher Überlegenheit, einer Neudeutung deutscher Geschichte und eines „Deutsch-Seins“ durch Ausgrenzung.
 
Alltagsrassismus und fremdenfeindliche Einstellungen sind kein neues Phänomen. Sie haben auch Ergebnisse Ihrer Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ in die aktuelle Analyse einfließen lassen. Sie können zeigen, dass etwa 20 % der Befragten schon 2002 rechtspopulistische Einstellungen vertraten. Werden diese Einstellungsmuster jetzt nur sichtbar oder handelt es sich bei den aktuellen Entwicklungen um ganz andere, neue Akteure? 

In der Tat, man muss es immer wieder betonen. Es geht um Einstellungen zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ nach der Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit als Juden, Muslime, Homosexuelle, Flüchtlinge, Obdachlose, Menschen anderer Hautfarbe, und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten abgewertet und diskriminiert werden und in den Fokus von Gewalt geraten. Solche Einstellungen waren schon lange vor dem Auftreten rechtsreaktionärer Bewegungen 2014 oder der 2015 nach rechts driftenden Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD), die ich „Autoritären Nationalradikalismus“ nenne, vorhanden. Personen mit diesen autoritären Einstellungen hatten bis dahin keinen wahlpolitischen Ort. Diese Personen waren vagabundierend, indem sie mal die Sozialdemokraten, mal die Christdemokraten wählten oder in die wutgetränkte Apathie der Wahlenthaltung verschwanden. Seit 2015 haben diese Personen ein autoritäres politisches Angebot. Sie werden mit autoritären Parolen aus ihrer individuellen Ohnmacht herausgeholt und mit kollektiven Machtfantasien gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie versehen.
 
Sie kommen auch zu dem Ergebnis, dass rechtspopulistische Haltungen keineswegs nur von sozial Abgehängten vertreten werden, sondern auch von Besserverdienenden mit hohem Bildungsgrad. Sie sprechen von „roher Bürgerlichkeit“. Was genau meinen Sie damit? 

Dieser Blickwinkel ist lange unterschätzt worden. Mit „roher Bürgerlichkeit“ ist gemeint, das sich hinter der Fassade von präsentiertem Wohlstand und geschliffener Sprache ein Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen zeigt. Es werden Etablierten-Vorrechte reklamiert und auch in diesen Gruppen wird eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ sichtbar, die den Kern der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ bildet. Wichtig ist, dass formal höhere Bildung keinen sicheren „Puffer“ gegenüber solchen Einstellungen bietet. Das ist zwar eine zur gesellschaftlichen Selbstentlastung gepflegte Position. Es ist aber politischer Selbstbetrug. Man muss sich nur die schon 20 Jahre alten Untersuchungen zu fremdenfeindlichen und nationalkonservativen Einstellungen bei Studierenden aus juristischen, wirtschaftswissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen ansehen. Sie sind ausgeprägter als bei Studierenden anderer Fächer. Aber aus den genannten Fächern werden die Führungseliten für Wirtschaft, Politik und den Staat rekrutiert.
Hinzu kommt, dass Personen dieser Kreise vor allem durch intellektuelle Eliten nicht nur des sich immer weiter ausdifferenzierenden rechten Spektrums erreicht werden.
 
Rechtspopulistische Haltungen sind nicht allein ein ostdeutsches Phänomen. Die AfD erzielte beispielsweise bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Jahr 2016 aus dem Stand 15,1 %. Auch kommen viele prominente Führungsfiguren der Partei, wie etwa Björn Höcke, aus dem Westen. Gibt es aus ihrer Sicht dennoch Unterschiede in Ost- und Westdeutschland? 

Sie haben völlig recht mit Ihren Hinweisen. Es gibt aber seit Beginn der sogenannten „Wiedervereinigung“ deutliche Unterschiede. Die können wir in der Langzeituntersuchung zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zwischen 2002 und 2011 mit jährlich repräsentativen Bevölkerungsbefragungen immer wieder zeigen. Und das setzt sich bis heute fort. Das Zusammenwirken von sozialen Desintegrationsprozessen, das nicht Wahrgenommen-Werden durch politische Eliten, die Orientierungslosigkeit und vor allem –  das muss man immer wieder betonen – die Anerkennungsverluste führen zu diesen autoritären politischen Suchbewegungen erheblicher Teile der Bevölkerung. Das gilt auch für Jüngere, vor allem junge Männer. Hinzu kommt der politisch unterschätzte sozialgeografische Faktor: Ostdeutschland ist vor allem geprägt von Dörfern und Kleinstädten, die sozial und kulturell ziemlich homogen sind und dadurch hohe Konformität erzeugen.
 
Sie halten den längst etablierten Begriff „Rechtspopulismus“ für untauglich und sprechen sich stattdessen für die etwas sperrigere Bezeichnung „Autoritärer Nationalradikalismus“ aus. Warum halten Sie diese Bezeichnung für treffender? 

Der Begriff „Rechtspopulismus“ ist völlig ungeeignet, um zu beschreiben, was sich politisch vollzieht. Er ist inhaltsleer, er hat keine Kriterien außer einer Konfliktlinie, wenn vom Gegensatz des „wahren“ Volkes gegen korrupte Eliten gesprochen wird. Die Verwendung ist völlig beliebig und vor allem niedlich verharmlosend. Die doch so gravierend unterschiedlichen Entwicklungen in Polen, Ungarn, USA, Frankreich, Deutschland werden alle in diesen Topf geworfen. Ich bin immer wieder entsetzt, wie bewusstlos Medien, Politik und auch Wissenschaft damit umgehen. Ein prominenter Journalist eines prominenten deutschen Magazins sagte mir: Sie können ja recht haben mit Ihrem Begriff des „Autoritären Nationalradikalismus“, aber wir brauchen „Kurzformeln“. Dass der Gebrauch von Kurzformeln auch kurzsichtig macht, interessiert ihn nicht.
Also, der genannte sperrige Begriff ist deshalb zutreffender, weil er auf theoriegeleiteten empirischen Kriterien basiert, das heißt auf dem selbstverständlichen wissenschaftlichen Handwerkszeug. Für Deutschland bedeutet das: Es geht dem „Autoritären Nationalradikalismus“ mit seinen drei Elementen erstens um ein autoritäres Gesellschaftsmodell mit hoher Kontrolle, Hierarchien sowie Eingrenzung von Lebensstilen und Ausgrenzungen. Zweitens soll das Politikmodell der liberalen Demokratie  umgebaut werden in eine nationalistische Version mit deutscher Überlegenheit und möglichst homogener ethnischer Zusammensetzung, die sich mit einer Neudeutung deutscher Geschichte beschäftigen soll. Drittens geht es um radikale Grenzüberschreitungen insbesondere gegen markierte schwache Gruppen, mit unterschiedlicher Herkunft, Glauben, sexuellen Orientierungen usw. Der ganz entscheidende Faktor ist, dass sich einerseits rechtspopulistische Akteure nur für öffentliche Erregungszustände interessieren. Andererseits will der gewalttätige Rechtsextremismus vor allem Schrecken verbreiten auf Straßen und Plätzen. Der „Autoritäre Nationalradikalismus“ der AfD mit seiner Erfolgsspur ist dazwischen platziert. Er zielt auf die De-Stabilisierung gesellschaftlicher und politischer Institutionen – und letztlich des Systems. Deshalb will er eindringen in die Polizei, in das Militär, in die Kulturbereiche, in die Gewerkschaften, in die Schulen, in die Justiz etc. - alles für den „Systemwechsel“!    
 
Welche Bedeutung messen Sie den neuen Medien wie den sozialen Netzwerken Facebook & Co für diese Entwicklungen zu? 

Es ist keine Frage, dass die Bedeutung hoch ist. Bei allen deutschen Parteien ist die AfD diejenige, die am wirkungsvollsten aufgestellt ist. Es gibt zahlreiche Probleme. Zwei seien nur genannt. Zur Eindämmung etwa der Hasskriminalität wäre die weitreichende Kooperation mit den großen Internetkonzernen nötig. Das wird nicht gelingen, denn es ist ein kapitalgetriebenes Marktmodell, das kein Interesse an gesellschaftlichem Frieden oder sozialer Integration hat. Das würde keinen Mehrwert bringen. Es ist die brutale kapitalistische Verwertungslogik mit politischen Zerstörungsfolgen. Dieser fortgeschrittene Prozess lässt sich über nationalstaatliche Politik nicht mehr einfangen. Das zweite große Problem besteht darin, dass wir es nicht mehr mit einer Öffentlichkeit zu tun haben, in der Argumente ausgetauscht werden. Es gibt inzwischen Öffentlichkeiten (also im Plural), die sich in den separaten und abgedichteten „Filterblasen“ und „Echokammern“ abbilden. Es finden sich homogene Gruppen, die nicht an Auseinandersetzung um gesellschaftliche Probleme in geregelten Kommunikationskonflikten interessiert sind, sondern sich nur selbstbestätigend aufschaukeln in einer Wutspirale.  
 
Rechtsautoritäre Bewegungen und Parteien sind ein europäisches Phänomen und mit Blick auf die USA und Trump eines der westlichen Welt. Wieso trat diese Entwicklung aus Ihrer Sicht in Deutschland mit der AfD erst vergleichsweise spät ein? 

In der Tat haben wir in Deutschland etwa gegenüber Österreich mit Haider oder Frankreich mit Le Pen eine „Rückstand“ von ca. 20 Jahren. Zu den Gründen gehört m.E. zum einen die deutsche Geschichte mit ihrer Abschreckungswirkung gegenüber nationalistischen und autoritären Versuchungen. Es gab die trügerische gesellschaftliche Selbstberuhigung: „Wir haben unsere historische Lektion gelernt“. Diese weitverbreitete Auffassung hat auch dazu beigetragen, dass unsere jährlichen Veröffentlichungen in der Buchreihe „Deutsche Zustände“ und in vielen Massenmedien insbesondere von den konservativen politischen Parteien und auch von journalistischen Eliten abgetan wurden: Alles Alarmismus, der mit unserer intakten und humanen Gesellschaft nichts zu tun hat.  Außerdem war die rechtsextremistische Partei NPD nicht sonderlich attraktiv für bürgerliche Wähler. Dann gab es noch lange eine stabile Parteienbindung an relativ große Volksparteien wie die Sozialdemokraten und Christdemokraten. Diese drei politischen Faktoren haben an Bedeutung verloren, während die eingangs geschilderten Zusammenhänge von ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren an krisenhafter Bedeutung gewonnen haben. Dann kam die „Kaperung“ der eigentlich auf ökonomische Kritik des „Euro“ ausgerichteten AfD dazu, die dann ein eigenständiges Erfolgsinstrumentarium entwickelt hat mit einer neuen Erfolgsspur.  
 
Sehen Sie Anzeichen bzw. Trends, die darauf hindeuten, dass der „Autoritäre Nationalradikalismus“ sich weiter normalisieren und in Zukunft womöglich wachsen wird? 

Die Normalisierungsprozesse stellen ein großes Problem da. Alles, was als normal gilt, kann nicht mehr problematisiert werden. Auf diesem Wege befinden wir uns ganz eindeutig. 2018 habe ich geschrieben, wenn der „Autoritäre Nationalradikalismus“ sich nicht selbst von innen zerlegt, ist ein politischer Wachstumsprozess nicht auszuschließen. Drei Gründe lassen sich dazu anführen: Erstens wirken die eingangs aufgeführten Ursachenzusammenhänge weiter, ohne politisch wirkungsvoll verändert zu werden. Zweitens wissen wir noch nicht, welche autoritären Versuchungen auftreten, wenn die ökonomischen und politischen Folgen nach einer irgendwann und irgendwie bewältigten Corona-Krise mit den ganzen gesellschaftlichen Verwerfungen sichtbar werden. Drittens schließlich leben wir in einem „eingedunkelten“ Europa. Überall finden sich die autoritären Versuchungen und auch „rechte Bedrohungsallianzen“. Letzteres ist der Gegenstand des neuen Buches. [2]


[1] Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen, Signaturen der Bedrohung I, Suhrkamp Verlag Berlin, 2018.
[2] Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen, Signaturen der Bedrohung II, Suhrkamp Verlag Berlin, erscheint voraussichtlich am 12.10.2020.


 

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