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Internationaler Holocaust-Gedenktag
Aktivismus gegen den Antisemitismus im deutschen Fußball

Mainz 05-Fans gedenken Eugen Salomon, Gründungsmitglied und ehemaliger Vorsitzender des Clubs, der 1942 in Auschwitz ermordet wurde.
Mainz 05-Fans gedenken Eugen Salomon, Gründungsmitglied und ehemaliger Vorsitzender des Clubs, der 1942 in Auschwitz ermordet wurde. | Foto: Christoph Kessel © Goethe-Institut Israel

In den letzten 30 Jahren ist, was Antisemitismus in deutschen Fußballstadien betrifft, eine deutliche Verbesserung der Situation zu beobachten. Verschwunden ist das Phänomen deshalb aber noch lange nicht. Zum Internationalen Holocaust-Gedenktag schreibt Felix Tamsut für unser Magazin über Initiativen und Aktivismus gegen Antisemitismus in der Bundesliga und anderen Ligen des deutschen Fußballs. 
 

Von Felix Tamsut

Samstagabend, 9. März 2018. Das Stadion am Europakreisel in Mainz ist hell erleuchtet, die Fans drängen sich auf den Tribünen. Schalke tritt heute hier in Rheinhessen gegen den Gastgeber 1. FSV Mainz an. Scheinbar ein Spiel wie jedes andere im eng getakteten Spielplan der Bundesliga.

Aber für die Ultras aus Mainz ist es alles andere als das. Im Q-Block, der Tribüne der Ultras, wird ein Transparent gehisst, das Eugen Salomon zeigt, den ersten Präsidenten des Vereins, und über die gesamte erste Reihe der Tribüne spannt sich ein Banner mit der Aufschrift „130 Jahre Eugen Salomon – für immer Mainz 05!“. Im Laufe des Spiels kommen weitere Banner dazu, diesmal mit der Aufschrift: „Familienmensch, 1. Vorsitzender & Pionier des Vereins; „Eugen Salomon: Gesicht einer vertriebenen und ermordeten Generation. Jüdische Geschichte endlich aufarbeiten!“

Salomon, einer der Gründungsmitglieder von Mainz 05, war Jude. Nach der Machtergreifung der Nazis warf man ihn 1933 aus dem Verein. 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.

Die Mainzer Ultras sind nicht die einzigen. In ganz Deutschland haben es sich Fußballvereine, Ultras-Gruppierungen und andere zur Aufgabe gemacht, das Gedenken an den Holocaust lebendig zu halten, auf Antisemitismus im heutigen Deutschland aufmerksam zu machen und sich dagegen zu positionieren. Insbesondere in den Stadien, aber auch in der Gesellschaft.

Grund zum Handeln gibt es genug: Laut Statistiken der Polizei kam es 2020 zu 2351 antisemitischen Vorfällen in Deutschland  – der Höchstwert seit Einführung der Statistik 2001 – davon wurden 57 als physische Gewalt eingestuft.


Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft äußert sich unter anderem auch im Fußball. In den unteren Ligen wurden in den letzten Jahren einige Vorfälle registriert, darunter die Verwendung des Wortes „Jude“ als Schimpfwort, aber auch Begriffe aus der Nazizeit gegen Fans der gegnerischen Mannschaft. In einem Vorfall von 2017, der auch in der Presse große Beachtung fand, sangen Fans von Energie Cottbus aus der vierten Liga über die Fans der gegnerischen Mannschaft aus Brandenburg, Babelsberg 03, sie seien „Zecken, Zigeuner und Juden“. Außerdem nutzten die Cottbusser Fans den Nazi-Ausspruch „Arbeit macht frei“ gegen die Babelsberger Mannschaft, deren Fans als politisch links bekannt sind.

Trotz dieser Vorfälle im deutschen Fußball, lässt sich in den letzten 30 Jahren doch eine deutliche Verbesserung der Situation feststellen. Um ihre Bedeutung besser verstehen zu können, müssen wir uns die Situation in den 1970er und 80er Jahren etwas genauer ansehen.

in den 1970er und 80er Jahren

In diesen Jahren wurden viele Fan-Blocks in deutschen Fußballstadien von Hooligans dominiert, also von Fußballfans, deren Aktivität durch gewalttätige Auseinandersetzungen mit Fans der jeweils gegnerischen Mannschaft charakterisiert war, und die sich zum Großteil auf die eine oder andere Weise der politischen Rechten und mitunter sogar der Neo-Nazi-Bewegung zugehörig fühlten. Die wohl bekannteste Gruppierung deutscher Hooligans war die Borussenfront, Fans von Borussia Dortmund, die sich immer wieder Nazi-Symbolik und antisemitischer Lieder bedienten. In einem Dokumentarfilm aus den 1980er Jahren über die Borussenfront sind zwei ihrer Mitglieder vor einer schwarz-gelben Flagge – den Vereinsfarben von Borussia Dortmund – zu sehen, darüber eine ganze Reihe von Nazi-Symbolen und Schriftzügen. Auf die Frage, was die Symbole zu bedeuten hätten, antwortete einer der beiden, sie identifizierten sich mit den Nazis, weil “die Nazis die Macht waren, und wir sind auch die Macht”. Die Vereine distanzierten sich damals von dem Problem mit der Begründung, dass Rechtsradikalismus ein gesellschaftliches Problem sei, dass nicht allein im Fußball gelöst werden kann.

Die Wende auf den Tribünen gegen Ende der 1980er Jahre hatte zwei entscheidende Gründe:

Erstens: Das Aufkommen einer neuen Fanbewegung in deutschen Stadien – der „Ultras“. Dieser Subkultur, die junge Fans aus Italien nach Deutschland gebracht hatten, wurde als entscheidendes Grundprinzip zugeschrieben, die Fanblocks für alle besser zugänglich zu machen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen spielen Herkunft und Religion eine kleinere Rolle als bei den exklusiv orientierten Hooligans und rechtsradikalen Gruppierungen, in denen Rassismus und Antisemitismus zur Ideologie gehören.

Zweitens: Die Gründung der Fanprojekte, einer besonderen Form der Jugend- und Sozialarbeit, die in Deutschland mit Fokus auf junge Männer entwickelt wurden, um Fußballfans eine Stimme zu geben. Die Themen reichen dabei von der Aufklärung über ihre Rechte als Fans, bis hin zu rechtsextremen politischen Strömungen in den Fanblocks. Ein Schwerpunkt der sozialen Arbeit in Fanprojekten liegt auf der Vermittlung von demokratischen Grundwerten und der Sensibilisierung für sozio-politische Themen in den Städten und Regionen der Vereine. Fanprojekte genießen großes Vertrauen und Respekt unter den Fans, weil sie unabhängig von Vereinsleitungen und staatlicher Autorität agieren und sich ganz auf die Fans und deren Belange konzentrieren können.

Aktionen gegen Rassismus

Dreißig Jahre später sind Aktionen gegen Rassismus in den Stadien der Bundesliga zur Normalität geworden. Eine der bekanntesten Initiativen ist „Nie wieder“, die von Fans, Journalist*innen, Autor*innen und anderen ins Leben gerufen wurde und den Fußball als Plattform nutzt, um das Gedenken an den Holocaust ins Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken. Jedes Jahr an einem Wochenende in zeitlicher Nähe zum 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, tragen Bundesliga-Spieler die Flagge der Initiative ins Stadion. Das zentrale Motiv der Gedenkinitiative ändert sich von Jahr zu Jahr.
Aktion gegen Antisemitismus
Foto: Felix Tamsut © Goethe-Institut Israel

Eine weitere Initiative ist „Fußballfans gegen Antisemitismus“. Sie wurde 2013 von Caillera, einer Ultragruppe von Werder Bremen, gegründet und hat zum Ziel, auf den Antisemitismus in deutschen Fan-Blocks aufmerksam zu machen. Darüber hinaus baut sie ein Netzwerk von Fans auf, die gegen Antisemitismus in Städten und Stadien aktiv werden wollen. Die Initiative veranstaltet zahlreiche Vorträge und lädt zu Aktionen ein, um mehr Bewusstsein für Antisemitismus in der Bevölkerung allgemein und im Fußballstadion im Besonderen zu schaffen. Dabei wird ein besonderer Fokus auf typische Mechanismen und Muster des Judenhasses gelegt, und darauf, wie man sie erkennen kann, selbst wenn es sich nicht in allen Fällen um offenen Antisemitismus handelt. Dazu gehört es zum Beispiel auch, wenn bestimmte Bereiche der Fußballwelt als „Eliten“ bezeichnet werden, die es zu bekämpfen gilt, oder wenn sich der Bildsprache der Nazis bedient wird, um Vereine und Funktionäre als „Ratten und Kraken“ zu verunglimpfen, die den Fußball „verseuchen“ wollen.

Auch auf der lokalen Ebene gibt es zahlreiche Initiativen, die das Gedenken an den Holocaust bewahren wollen. So hat beispielsweise die Ultraszene von Bayern München das Leben und Wirken von Kurt Landauer erforscht, der vor dem zweiten Weltkrieg Präsident des Vereins war, und sein Gedenken in Form einer Reihe von Choreographien geehrt. 2014 erhielt die Ultragruppierung „Schickeria“ für ihren Einsatz zum Gedenken von Kurt Landauer den Julius Hirsch Preis des Deutschen Fußballbundes. Der Preis wird jährlich für besonderes Engagement in der Förderung demokratischer Werte im deutschen Fußball verliehen. Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender und ehemaliger Spieler von Bayern München, sagte damals, er habe in all den Jahren im Verein kein einziges Mal den Namen Kurt Landauer gehört – bis die Ultras auftauchten. Heute gedenkt der Verein Landauer auf vielfältige Weise.

Eine andere Ultragruppe von Bayern München, „Colegio“, hat kürzlich die Ergebnisse einer umfangreichen Recherche über Juden im bayerischen Fußball vor dem zweiten Weltkrieg vorgelegt. Ein Münchner Radiosender strahlte dazu eine einstündige Sondersendung aus.

Ultras von Werder Bremen, FC St. Pauli, Chemie Leipzig, Tennis Borussia Berlin und viele andere engagieren sich ebenfalls aktiv gegen Antisemitismus.

Doch nicht nur Fans haben sich dem Kampf gegen den Antisemitismus im deutschen Fußball verschrieben. Viele große deutsche Vereine finanzieren Bildungsprogramme, die ihren Fans demokratische Werte vermitteln sollen, die bekanntesten sind Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt. 2019 spendete Borussia Dortmund zudem eine Million Euro an Yad Vashem und eine Delegation des Vereins reiste 2021 zum World Holocaust Forum nach Jerusalem.

In Deutschland, wo der Fußball eine derart zentrale Rolle im Alltag, der Geschichte und der Kultur spielt, reicht die Wirkung solcher Initiativen weit über die Stadien hinaus. Nach Polizeiangaben besuchten 2018/19, also der letzten Saison, die nicht von Corona-Einschränkungen betroffen war, rund 22 Millionen Fußballfans Spiele der ersten und zweiten Bundesliga. (Zum Vergleich: Deutschland hat rund 83 Millionen Einwohner.) Natürlich ist der deutsche Fußball nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft – weiße Männer stellen noch immer die überwältigende Mehrheit in Stadien und Führungsetagen – aber er macht soziale Stimmungen in einer Intensität sichtbar, wie kein anderer Bereich der Gesellschaft.

So spiegelt auch der Kampf gegen den Antisemitismus im deutschen Fußball zuverlässig die Stimmung in Deutschland 2021 wider: Judenhass ist nach wie vor sehr lebendig, aber anders als früher gibt es heute viele Bewegungen, die sich unermüdlich dafür einsetzen, Antisemitismus klar zu benennen und zu verurteilen. So sorgen sie dafür, dass das Fußballstadion – eine der wichtigsten Bühnen für politischen und sozialen Aktivismus in Deutschland – ein Ort bleibt, an dem Jüdinnen und Juden das Gefühl haben können, dass der Fußball auch ihnen gehört.
 

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