Berlinale | Filme aus Lateinamerika
Erinnerung aus den Archiven

Südamerikanische Filme erzählen anhand von Archivmaterial Geschichten einer noch nicht bewältigten Vergangenheit. Diese bestimmt bis heute die in der Region etablierten Machtdynamiken.
Von Camila Gonzatto
Der paraguayische Dokumentarfilm Bajo las banderas el sol / Under the Flags, the Sun (Sektion Panorama) von Juanjo Pereira, eine Koproduktion unter Beteiligung von Argentinien, den USA, Frankreich und Deutschland, bearbeitet die Geschichte der Diktatur in Paraguay (1954-1989), der längsten in Lateinamerika. Angeführt von General Alfredo Stroessner, der 35 Jahre lang an der Macht blieb, stützte sich der Putsch auf die Armee sowie die bis heute im Land regierende Colorado-Partei. Mit Bildern aus Archiven in aller Welt zeigt der Film unterschiedliche Facetten des Regimes. Dazu gehören politische Gefangenschaft und Folter, die Benachteiligung der Landbevölkerung und indigener Volksgruppen, die Allianzen mit anderen Diktaturen in Lateinamerika – etwa Argentinien, Brasilien und Chile – im Rahmen der „Operation Condor“, sowie deren Unterstützung durch die USA.

Bajo las banderas el sol / Under the Flags, the Sun. Paraguay/Argentinien/USA/Frankreich/Deutschland, 2025. Regie: Juanjo Pereira. Berlinale Panorama. | Foto (Detail): © Berlinale Panorama
Filmische Erinnerung restauriert
Die Diktatur in Brasilien war geprägt von umstrittenen Großprojekten. Neben dem Wasserkraftwerk Itaipu gehörte auch die nie fertig gestellte Überlandstraße Transamazônica dazu, samt den gigantischen gesellschaftlichen und ökologischen Folgen dieses Bauprojekts. Die neue Straße bildet den Hintergrund des dokumentarischen Dramas Iracema, uma transa amazônica / Iracema (Forum Special), das Jorge Bodanzky und Orlando Senna in den 1970er-Jahren für das ZDF drehten und später ins Kino brachten. Der nun digital in 4K restaurierte Film über einen Lastwagenfahrer und eine junge indigene Prostituierte ist weiterhin hochaktuell und zeigt neben dem gescheiterten Projekt der diktatorischen Machthaber auch die Waldzerstörung und die Brandrodungen, den Plantagenbetrieb samt Rinderzucht in der Region sowie die Probleme einer breiten Bevölkerungsschicht, die bis heute in erbärmlichen Verhältnissen lebt.
Iracema, uma transa amazônica / Iracema. Brasilien/Deutschland 1975. Regie Jorge Bodanzky, Orlando Senna. Im Bild: Edna de Cássia. Berlinale Forum | Foto (Detail): © Arquivo Jorge Bodanzky IMS
Kautschuk löscht Leben aus
Der in der Sektion Forum gezeigte peruanische Dokumentarfilm mit portugiesischer Beteiligung La memoria de las mariposas / The Memory of Butterflies erzählt mit Archivbildern sowie aktuellen analogen Super-8-Aufnahmen von der Kautschukgewinnung in Amazonien, insbesondere in der peruanischen Region Putamayo. Weiterhin informiert er über die Ausrottung der dortigen indigenen Bevölkerungen durch extreme Gewalt. Die Regisseurin folgt der Spur einer Fotografie zweier indigener Jungen, Osmarino und Aredomi, die nach London verschleppt und dort wie Objekte ausgestellt, vermessen und studiert wurden. Der Film rekonstruiert ihre Geschichte anhand von Tagebüchern und Briefen des irischen Offiziers Roger Casement, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Region aufgehalten hatte. In seinem Nachzeichnen der Geschichten der beiden Jungen beschäftigt sich der Film mit Machtverhältnissen und den gesellschaftlichen Folgen der Kautschukgewinnung in ganz Amazonien. Sie hat tiefe Spuren im Leben der lokalen indigenen Bevölkerung hinterlassen.
La memoria de las mariposas / The Memory of the Butterflies. Peru/Portugal 2025. Regie Tatiana Fuentes Sadowski. Berlinale Forum | Foto (Detail): © Miti Films / MAA Cambridge / Comunidade de Puerto Arica
Das Ende der Welt verschriftlicht
Anhand von vier Briefen indigener Personen, verfasst zu Beginn des 17. Jahrhundert, greift Cartas do absurdo / Letters from Absurd von Gabraz Sanna (Brasilien, Forum Expanded) auf experimentelle Weise die Vernichtung der indigenen Bevölkerungen durch Zwangsarbeit und ihre europäische Missionierung zur brasilianischen Kolonialzeit auf. Die Briefe werden auf Nheengantu (Tupi in der heutigen Variante) verlesen. Sie berichten vom Ende einer Welt, deren Auflösung schon vor Jahrhunderten ihren Anfang nahm. Zwei Briefe präsentieren die indigene Weltsicht, die beiden anderen zeigen die Perspektive von Indigenen, die für die Krone arbeiteten. Neben der Intensität der zu Gehör gebrachten Briefe sorgt auch die filmische Abbildung einer langen Bootsfahrt in Richtung einer Großstadt für spannungsgeladene Filmmomente.
Cartas do Absurdo / Letters from Absurd. Brasilien 2025. Regie Gabraz Sanna. Berlinale Forum Expanded | Foto (Detail): © Eu morri em 1999.