Berlinale | Filmkritik „Was Marielle weiß“
Was wir lieber nicht preisgeben

Was passiert, wenn das eigene Kind plötzlich übersinnliche Fähigkeiten entwickelt? Der Film „Was Marielle weiß” spielt das durch – und überrascht mit einer gelungenen Mischung aus Leichtigkeit, Humor und tiefgründigem Erzählen.
Von Jutta Brendemühl
Julia und Tobias haben alles. Oder nichts. Vater-Mutter-Kind, zwei anspruchsvolle Jobs im gehobenem Mittelklassen-Ambiente einer anonymen Durchschnittsstadt. Doch hinter der Fassade braut sich Ärger zusammen. Das austarierte Gleichgewicht zwischen Julia und Tobias wird massiv gestört, als Tochter Marielle plötzlich die Fähigkeit erhält, alles zu sehen und zu hören, was ihre Eltern tun – Tag und Nacht. Das Paar merkt bald, dass damit auch die Lügen, die sie sich selbst und einander erzählen, nicht mehr verborgen bleiben. Als ihre tiefsten Geheimnisse ans Licht kommen, finden sich beide in einem manipulativen Wettkampf wieder, der zu immer unangenehmeren und absurderen Situationen führt.
Ein Kind, das zu viel weiß
Wer den Regisseur Frédéric Hambalek nicht kennt, ist nicht allein. Der deutsche Berlinale- Wettbewerbsbeitrag Was Marielle weiß ist erst sein zweiter Spielfilm – und hoffentlich das Sprungbrett zu weiteren Geschichten. Es geht um Selbstverständnis und Selbstdarstellung, um die Diskrepanz zwischen Denken und Reden, um Beziehungskommunikation und die Abschaffung der Privatsphäre. Den Verkehrte-Welt-Ansatz, bei dem ein Kind plötzlich mehr kann und weiß als die Eltern, und die ins Wanken geratene Balance in der eingefahrenen Familienkonstellation spielt Hambalek süffisant in diversen „Was-wäre-wenn-Szenarien“ aus. Kaum meint man, es liefe gut, kommt es doch anders. So vergehen die sparsamen 86 Filmminuten kurzweilig und unterhaltsam – mit dem Durchspielen dieser Fragen: Was, wenn der Partner unsere derbsten sexuellen Fantasien erführe? Was, wenn die Realität die geheimen Wünsche und Versprechen nicht einlöst? Was, wenn das Kind beschämende Ängste und Fehlgriffe der Eltern kennt (und nutzt)? Und wie weit würden wir gehen, um unsere eigenen Bewältigungsmechanismen und Fiktionen aufrechtzuerhalten?Opfer und Täter zugleich
Felix Kramer (Irgendwann werden wir uns alles erzählen, 2023) spielt Tobias zerrissen zwischen Pater-familias-Wunschbild und kreativem Manager, dem die passiv-aggressiven Kolleginnen nicht den gebührenden Respekt zollen. Julia Jentsch (u.a. Sophie Scholl - Die letzten Tage, 2005) als Mutter Julia sagt uns in den ersten fünf Minuten, dass sie nur gelangweilt ist von ihrem immergleichen Tagestrott und bändelt recht eindeutig mit dem Kollegen an. Später liefert sie eine sehr lustige ungelenke Sexszene ab. Von der selbstsicheren vierzehnjährigen Laeni Geiseler als Medium oder Orakel, die den einfachen und unerklärten narrativen Allwissenheits-Kniff im Handlungsstrang souverän umsetzt, wird man in Zukunft sicher mehr hören. Alle drei Figuren sind Opfer und Täter im entgleisten Zusammensein. Das macht den Film erholsam undidaktisch.Alles, was passiert, ist ein zweischneidiges Schwert, stellt sich bei Zuschauen heraus. Derweil die Zuschauerinnen im Hinterkopf überprüfen, wie es in den eigenen Beziehungen um (Selbst-)Vertrauen, Wahrheit, Verschweigen und die sozialen Folgen bestellt ist. Im Laufe des Films wird es für alle unangenehm, böse, gewalttätig, aber auch ein wenig befreiend. Neue Blickwinkel und Umgangsweisen eröffnen sich. Das Drehbuch ist durchzogen von einem Humor, der an den Film Toni Erdmann erinnert. Jedenfalls bleibt einem das laute Lachen oft im Hals stecken. Die geschickt verquere Kamera, oft aus der Decken-Ecken-Perspektive einer Überwachungskamera, unterstreicht visuell den Irrwitz der Situationen. Die ausprobierende Spielfreude der Hauptdarsteller*innen nimmt das Publikum charmant an die Hand. Die Regie ist elegant, die Inszenierung leicht stilisiert fernab von Sozialrealismus oder -kritik, weder bemüht noch weltfremd. Bei aller Präzision zieht Hambalek eine erfrischend wilde und respektlose Linie durch das Verhandeln der großen Daseinsfragen.
Die heiteren und die dunklen Seiten
Danach gefragt, wie er die Balance zwischen dramatischer Eskalation und komödiantischen Situationen hält, gibt der Regisseur Einblicke in seine Arbeitsweise: „Ich wollte jeder Szene treu sein, je den richtigen Ton finden. Bei manchen Szenen wusste ich nicht, wo es hingehen würde, ich hatte eine Vorstellung, aber im Dreh mit den Schauspielerinnen … fühlte es sich dann anders richtig an. Man lässt sich ein, hat das passende Händchen." Felix Kramer erweitert: „Dass die Eltern sich in der Frage einrichten, wie kann ich bei meiner Tochter punkten, hat eine Komik ... die entsteht, weil man so viel reinlesen kann und es nicht bewertet wird.“Bei der Pressekonferenz lobt ein begeisterter spanischer Journalist: „Ein cleverer deutscher Film, dessen Humor auch anderswo funktionieren wird, das sieht man nicht so oft.“ Dabei hat das Werk auch genügend dunkle Seiten, ob unausgesprochen im Subtext oder zu erkennen in einer unheilschwangeren Pause, so dass es nie ins Klamaukige abrutscht. Das Jonglieren mit Mehrdeutigkeiten und subtilen Tonalitäten ist Hambaleks größtes Talent. Schnell identifizieren wir den schmalen Grat zwischen ehrlich und unverblümt, direkt und unverschämt, Chutzpe und Beleidigung.
Auf der Suche nach sozialem Frieden
„Zu viel Information, TMI (too much information)” heißt es im Soziale-Medien-Jargon. Kann oder will man ohne Geheimnisse (über-)leben und seine konstruierten Biografien erhalten? „Wie will ich sein?“, brachte Julia Jentsch die Frage des Films auf den Punkt.Frédéric Hambalek lässt die Charaktere und die Zuschauerinnen nicht vom Haken, zeigt aber dezent Möglichkeiten auf zwischen Umsicht und Nachsicht, bewussterer Kommunikation und rücksichtsvollerem Miteinander, um des lieben sozialen Friedens willen. Tiefgründige Lebensfragen leichtfüßig und absurd-humorig erzählt: So macht der Berlinale-Wettbewerb Spaß.