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Rosinenpicker
Über den Tod ins Leben

In Milena Michiko Flašars neuem Roman findet eine orientierungslose junge Frau nicht nur einen ungewöhnlichen neuen Job, sondern auch eine Ersatzfamilie.

Von Holger Moos

Flašar: Oben Erde, unten Himmel © Verlag Klaus Wagenbach Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat eine japanische Mutter und einen österreichischen Vater. Ihre beiden letzten Romanen widmete sie Randfiguren der japanischen Gesellschaft. In Ich nannte ihn Krawatte (2011) geht es um das Phänomen der Hikikomori, das sind Menschen, überwiegend Männer, die sich dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck entziehen, indem sie sich sozial isolieren und kaum noch ihre Wohnung verlassen. Herr Kato spielt Familie (2018) erzählt von einem Rentner, der unter dem in Japan verbreiteten Retired Husband Syndrome leidet. Herr Kato hatte sich immer stark auf seinen Beruf konzentriert und kann sich im Ruhestand nicht in seine Familie integrieren. Dann entdeckt er ein in Japan übliches Geschäftsmodell und lässt sich fortan über die Agentur Happy family als Gatte, Opa oder Firmenchef mieten.

Im Zentrum von Flašars neuem Roman Oben Erde, unten Himmel steht die 25-jährige Suzu, die von sich behauptet, keine Menschen zu brauchen. Auch Spaß muss sie nicht haben, sie will nur ihre Ruhe: „Es erschöpfte mich, jemanden kennenzulernen. All die Gespräche, die man führen musste, um auf eine gemeinsame Schnittmenge zu kommen… Wozu die Mühe? Es war schon anstrengend genug, ich selbst zu sein.“

Nicht hilfreich: Hamster und Dating-App

Suzus Wohnung ist minimalistisch eingerichtet. Das einzige wohnliche Element ist ihr Hamster Punsuke, doch selbst der interessiert sich bald nicht mehr für Suzu und verkriecht sich in seinen Bau, wenn sie nach Hause kommt.

Sie jobbt als Aushilfskellnerin in einem FamiResu, einem Familienrestaurant im amerikanischen Diner-Stil und beobachtet die Paare oder Familien, die zu Gast sind. Dabei stellt sie fest, dass sie zwar glücklich wirken, zugleich aber am schwierigsten zufrieden zu stellen sind. Wenn es um die Versorgung ihres Nachwuchses geht, seien Familienmenschen „wie Raubtiere“. Suzu schlussfolgert: „Für sich alleine zu leben, führt wohl zwangsläufig zu einer gewissen Bescheidenheit“.

Was Beziehungen angeht, glaubt Suzu, es sei am wichtigsten, nicht zu viel voneinander zu erwarten. Sie gibt nichts von sich preis, ist auch nicht an den Geheimnissen anderer interessiert. Dennoch nutzt sie eine Dating-App und lernt Kōtarō067 kennen, den gerade Suzus Reizlosigkeit anzieht: „Du bist eine von hundert! Das eine Prozent, das nicht vorgibt, etwas zu sein, was es nicht ist“. Die beiden haben Sex. Es scheint sich eine Liebesbeziehung zu entwickeln, bis sie von Kōtarō067 plötzlich „geghostet“ wird: „Weggewischt. Weggeworfen… Die Wirklichkeit war ein böser Traum, aus dem es kein Erwachen gab.“

Nach dieser schmerzhaften Enttäuschung lebt Suzu „wie in Trance“. Sie verliert ihren Job, der Geschäftsführer attestiert ihr einen Mangel an „Liebreiz“ und Empathie, außerdem fehle ihr das „soziale Plus“. Sein abschließender Rat: „Sie sollten sich einen Job suchen, bei dem Sie so wenig wie möglich mit Menschen zu tun haben“.

Leichenfundortreinigerin

Erst geghostet, dann gefeuert. Mit entsprechend wenig Selbstbewusstsein sucht Suzu eine neue Arbeit – schließlich muss sie ihren Hamster versorgen. Dem Rat ihres Ex-Chefs folgend, sucht sie nach Jobs ohne Kundenkontakt und bewirbt sich auf diese knappe Stellenanzeige: „Reinigungskraft für Aufräumarbeiten, m/w, Vollzeit“.

Zu ihrer Überraschung wird sie von einem gewissen Herrn Sakai zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Mit einem anderen Bewerber bekommt sie den Job, nachdem Herr Sakai ihnen im Bewerbungsgespräch erst mal einen Whiskey spendiert. Das ist auch nötig, denn es ist keine gewöhnliche Reinigungsfirma. Man brauche Takt, Fingerspitzengefühl und Diskretion, meint Herr Sakai. Denn gereinigt werden Wohnungen von so genannten Kodokusha, Menschen, die allein in ihren Wohnungen gestorben sind und deren Ableben längere Zeit unbemerkt geblieben ist. Kodokushi bedeutet „einsamer Tod“, kein seltenes Phänomen in Japan.

Suzu wird zur „Leichenfundortreinigerin“, nachdem sie und Takada, ihr ebenfalls neuer Kollege, die angesichts der Begleitumstände – Ungeziefer, Leichflüssigkeiten und -geruch – nicht ganz einfache Feuerprobe bestehen: die Reinigung der Wohnung des verstorbenen Herrn Ono, der Herrn Sakais Firma vor seinem Tod selbst beauftragt und bezahlt hat. Sie lernt schnell, worum es geht: den würdevollen Umgang, eine letzte Ehrerweisung gegenüber den einsam Verstorbenen und um eine letzte Ordnung der Dinge. Aus einem Unort wird wieder ein Ort. Für die Angehörigen stellt man „Erinnerungsboxen“ zusammen, mit einer Handvoll Dinge von symbolischem Wert. Denn nur selten war Streit die Ursache der sozialen Isolation: „Oft hatte man sich über die Jahre aus den Augen verloren, oder es war schwierig gewesen, zu dem anderen durchzudringen, und man hatte aufgehört, zu ihm durchdringen zu wollen“.

Einfühlsam, aber keine Wohlfühlliteratur

Herr Sakai entwickelt sich zu einer Vaterfigur für Suzu. Er ist ein philosophierender Chef, der über die „Gesellschaft der Unmündigen“ schimpft, in der zu viele Regeln propagiert würden: „Zu viele Vorschriften führen zu blindem Gehorsam. Und wozu einer fähig ist, der blind gehorcht, das hat uns das vergangene Jahrhundert gelehrt“.

Die kleine Firma, neben Suzu und Takada hat Herr Sakai zwei weitere Mitarbeiter, wird zur Ersatzfamilie, ein Glücksfall für Suzu und den vaterlos aufgewachsenen, nicht minder einsamen Takada, der in einem Manga Kissa wohnt, einem Internet-Café, in dem Mangas und Übernachtungsmöglichkeiten angeboten werden. Takada ist ebenfalls ein Außenseiter. Die Seelenverwandtschaft zwischen ihm und Suzu wird auch dadurch angedeutet, dass sie den gleichen Nachnamen haben.

Oben Erde, unten Himmel ist ein einfühlsamer, lebenskluger und bisweilen humorvoller Roman über die Beziehungsarmut in den Städten und den Umgang mit dem Tod. Flašar nimmt sich trauriger Themen an, versinkt aber weder in deren Schwere noch gleitet sie in Wohlfühlliteratur ab. Der Titel basiert auf einem Ausspruch Herrn Sakais, der nach einer entscheidenden Wendung in seinem Leben alles auf den Kopf stellte. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass der Tod nicht nur ein Ende bedeutet, sondern für die Hinterbliebenen auch ein Anfang sein kann – oder ein erfülltes Weitermachen.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Roman
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2023. 304 S.
ISBN: 978-3-8031-3353-3
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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