Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Rosinenpicker
Liebe in Zeiten von Dating-Apps

Helena Baumeister erzählt in ihrem Comicdebüt von ihren Erfahrungen mit einem Online-Date.

Von Holger Moos

Baumeister: oh cupid © avant-verlag Als wäre das Kennen- und Liebenlernen anderer Menschen nicht schon schwierig genug, tendierten die zwischenmenschlichen Anbahnungsmöglichkeiten im „echten Leben“ während der Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Coronapandemie gegen Null. Kein Wunder also, dass Online-Dating-Plattformen wie Tinder, Bumble oder Parship zu den Krisengewinnern gehörten.

Auch die Comiczeichnerin Helena Baumeister hat im Herbst 2020 zum ersten Mal eine Dating-App auf ihrem Handy installiert. Nach drei Reinfällen begegnete sie beim vierten Date einem Mann, der ihr von Anfang an gefiel. Die nachfolgenden Erfahrungen hat sie in ihrem Comicbuchdebüt oh cupid verarbeitet. Der Titel spielt einerseits auf den römischen Gott Cupido an, der im Gegensatz zu seinem siamesischen Zwilling Amor für die körperliche Liebe und die Begierde zuständig ist. Zum anderen gibt es die Kontaktbörse OkCupid. Sie ist seit 2004 online und damit eine der ältesten Einrichtungen dieser Art im Internet.

Aussortieren, ignorieren, weiter

Der Comic beginnt, als sich Helena und ihr viertes, namenloses Date zu einer Radtour verabreden. Helena sieht Online-Dating – nach drei ernüchternden Erfahrungen – durchaus kritisch: „Wisch nach rechts oder links. Aussortieren, ignorieren, weiter.“ Dennoch macht sie sich auf den Weg und trifft den Unbekannten. Während der Radtour schieben sich immer wieder innere Gedanken Helenas zwischen den Smalltalk, die versuchen, das eigene Verhalten und das des Gegenübers zu deuten. Schließlich läuft alles auf die Frage zu: Soll sie bei ihm übernachten oder nicht? Sie entscheidet sich dagegen, verbunden mit der Unsicherheit, ob es zu einem zweiten Treffen kommt.

Das tut es. Diesmal übernachtet sie bei ihm und die beiden haben Sex. Sie hofft auf mehr, doch er will wohl nur unverbindlichen Sex – was er schon beim ersten Treffen zugegeben hatte. Denn nach drei Wochen ist Helenas Nachricht im Chat immer noch die letzte, „dahinter stehen die zwei Häkchen, die anzeigen, dass du meine Nachricht gesehen und nicht beantwortet hast“.

Baumeister erzählt von allen Ambivalenzen, von ihren Hoffnungen und den Peinlichkeiten, ihren Sehnsüchten und Irritationen. Sie beschönigt nichts. Dazu passt ihr Zeichenstil: schwarz-weiße Bleistiftzeichnungen, kritzelig, skizzenhaft, mit den Körperproportionen spielend. Kurz: das Gegenteil von gefällig. Die Unfertigkeit der Zeichnungen korrespondiert mit dem Unfertigen der (unerfüllten) Liebesgeschichte.

Amseln und trübe Tassen

Der zeichnerische Ideenreichtum wird ergänzt von einer großen Prise Humor. So redet und redet Helena während der Radtour, bis ihr – bildlich – der Mund aus dem Gesicht fällt. Ironisch gebrochen wird die Geschichte durch zwei Amseln, die das Schauspiel wortwörtlich aus der Vogelperspektive beobachten und kommentieren. „Herrjeh … Was für eine trübe Tasse“, mokiert sich eine der Amseln, als Helena nach der gemeinsamen Nacht nach Hause schlurft.

Nachdem Baumeister für oh cupid (damals hieß der Comic noch okcupid IV) bereits 2021, vor Erscheinen in Buchform, in der Kategorie Comic den Hamburger Literaturpreis erhielt, folgte im Rahmen des diesjährigen Münchner Comicfestivals der PENG!-Preis als bester deutschsprachiger Comic 2023. Für Laudator Timur Vermes ist es „kein Comic über Online-Dates: Sondern eine Live-Reportage. Mittendrin statt nur dabei: Das Fernsehen macht nur leere Versprechungen, Helena Baumeister löst sie ein… Witzig, berührend, manchmal bittersüß, aber immer unglaublich einfallsreich.“

Und hat ihr Online-Date den Comic mittlerweile gesehen? Das hat er, wie Baumeister in einem Deutschlandfunk-Interview verrät, seine Reaktion: „Wertschätzend und verhalten.“ Das klingt zwar nicht nach großer Liebe, aber immerhin nach gewaltfreier Kommunikation.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Helena Baumeister: oh cupid
Berlin: avant-verlag, 2023. 104 S.
ISBN: 978-3-96445-084-5

Top