Nino Haratischvili
Juja
Nino Haratischwilis Debütroman Juja ist eine komplexe Erzählung, die eindringlich und schonungslos dunkle emotionale Themen aufgreift und Fans von zeitgenössischen englischsprachigen Schriftstellerinnen wie Evie Wyld ansprechen wird.
Die georgisch-deutsche Autorin Nino Haratischwili tauchte erstmals 2020 in der englischsprachigen Literaturszene auf, als ihr Familienepos Das achte Leben (für Brilka) auf der Longlist des International Booker Preises stand. Letztes Jahr erschien auch Mein sanfter Zwilling auf Englisch, jetzt ihr Debütroman Juja, in einer lyrischen, nuancierten Übersetzung von Ruth Martin. Täuschen Sie sich nicht: Das achte Leben ist dieses Buch nicht. Aber für all diejenigen, die von der erzählerischen Komplexität, technischen Kühnheit und schieren emotionalen Kraft von Haratischwilis Werk begeistert sind, ist es nicht zu überspringen.
Auch wenn es nicht ganz so umfangreich ist wie Das achte Leben (eine generationsübergreifende Familiensaga mit beeindruckenden 1274 Seiten), ist Juja ein nicht weniger ambitioniertes Unterfangen. Eines der Markenzeichen von Haratischwilis Romanen ist die Heftigkeit, mit der sie schreibt – die Handlung mag häufig zwischen Figuren und Jahren wechseln, ihre Prosa ist aber unerbittlich, eine regelrechte Flutwelle von Worten, die jede einzelne Leserin in die Geschichte hineinzieht. Juja ist ein atemloser Roman, der scheint, Spuren seiner Entstehung zu tragen.
In seiner Dringlichkeit, seiner verwobenen Struktur, seinem feministischen Hang und seiner entschlossenen Konfrontation mit dunklen Themen – nicht zuletzt mit der Gewalt, die Frauen angetan wird – könnte Juja Fans von zeitgenössischen englischen Romanen wie Evie Wylds The Bass Rock ansprechen. Von Selbstmord bis hin zu sexueller Gewalt gibt es hier jede Menge Stoff für Warnhinweise, doch Haratischwili bewegt sich geschickt auf einem schmalen Grat, indem sie ihre Geschichte eindringlich vermittelt und dabei genau auf der richtigen Seite von „zu viel“ bleibt. Die ständig wechselnde Erzählperspektive hilft dabei, denn sie reißt uns aus der Handlung heraus, wann immer eine Pause nötig ist. Ebenso die lyrischen Passagen, die scheinbar vor allem daran interessiert sind, die Möglichkeiten der Sprache zu erforschen.
Juja ist ein Roman von vielen erzählerischen Verzweigungen, der sich um ein zentrales Rätsel dreht: Wer war die geheimnisvolle Jeanne Saré, die angebliche Autorin eines wenig bekannten Buches, das in den 1970er Jahren zum Selbstmord mehrerer junger Frauen geführt haben soll? Die Handlungsstränge aus den Jahren 1953, 1968 und 1986 treffen auf die Geschichten von zwei im Jahr 2004 lebenden Hauptfiguren: Beide reisen spontan nach Paris, um Sarés Identität auf den Grund zu gehen. Die eine ist Laura, eine erfolgreiche aber unglückliche Professorin, die sich hartnäckig dem Sog des Rätsels widersetzt, bevor sie auf spektakuläre Art und Weise mitgerissen wird; die andere ist Francesca, eine australische Mutter, die ein heftiges Trauma erlitten hat und ihren inneren Monolog in Sarés Schriften wiederfindet.
Dies – die seltsame Macht der Worte, die Jahrzehnte zu überdauern, Trost oder Trauer auszulösen, Leben zu formen oder zu zerstören – ist eines der Hauptthemen von Haratischwilis Roman, ein Thema von scheinbar endloser Faszination, auf das sie immer wieder zurückkommt. Und vielleicht ist es genau das, was ihren Roman so fesselnd macht: Unter den vielen Schichten der Dunkelheit, der Gewalt und der emotionalen Qualen, ist die Idee, dass alles bloß eine Geschichte ist. Was machen wir mit unseren Worten, wie wirken sie auf uns selbst und auf andere? Juja gibt uns keine Antworten. Stattdessen gibt er lediglich dem dringenden menschlichen Wunsch nach, solche Fragen zu erforschen: bildhaft, dringend, manchmal erschreckend, ein schöner Spuk in Worten.
Über die Autorin
Eleanor Updegraff liest extrem gerne, besonders übersetzte Literatur. Sie ist Ghostwriterin, Übersetzerin aus dem Deutschen, Lektorin und Buchrezensentin, sowie Autorin von Kurzgeschichten und Essays. Sie ist in Großbritannien aufgewachsen und wohnt nun seit 2015 in Österreich. Wenn sie nicht gerade liest, sitzt sie im Kaffeehaus oder läuft um einen österreichischen See herum.Der Artikel wurde zuerst vom Goethe-Institut Glasgow im Dossier Buchblog: Literaturverkostung veröffentlicht.