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Jenny Erpenbeck
Kairos

Das Buch 'Kairos' liegt auf einem Tisch neben einem Strohhut und einem Glas Limonade.
© Sophia Hembeck

Kairos von Jenny Erpenbeck, in einer beeindruckenden Übersetzung von Michael Hofmann, erzählt von einer qualvollen, toxischen Liebesaffäre vor dem Hintergrund des Falls der Berliner Mauer und der letzten Jahre der DDR. Ähnlich wie der Roman Cleopatra and Frankenstein von Coco Mellors zeigt es die komplexen Machtverhältnisse zwischen jungen Frauen und wesentlich älteren Männern.

In einer Zeit, in der Online-Dating die vorherrschende Form der Partnersuche ist, erscheint eine zufällige Begegnung, ein Treffen von zwei vom Schicksal verdammter Liebender fast zu schön, um wahr zu sein, und im Fall von Jenny Erpenbecks Kairos ist es das auch.

Katharina und Hans' Beziehung beginnt mit einer fast filmreifen Begegnung. An einem Sommertag im Juli treffen sich die Beiden in einem Bus in Ostberlin, ein scheinbar zufälliger Moment, da sie beide den Bus fast verpasst hätten. Als sie beide an derselben Haltestelle aussteigen und ein plötzlicher Regenschauer sie zwingt, Schutz unter einer Brücke zu suchen, treffen sich ihre Blicke und sie beginnen, in die gleiche Richtung zu gehen: „Es fühlt sich gut an, neben ihm zu gehen, denkt sie. Es fühlt sich gut an, neben ihr zu gehen, denkt er.“ Erpenbecks Wahl des Titels Kairos – ein Verweis auf den griechischen Gott des glücklichen Moments, den man nur an der Stirnlocke zu fassen kriegt – setzt den Ton für die Erzählung.

Ähnlich wie die frühen Tage der DDR, die von einem romantisierten Glauben an einen utopischen Staat geprägt waren, glauben Katharina und Hans zunächst, in einander die große Liebe gefunden zu haben. Doch im Verlauf der Erzählung wird das Machtungleichgewicht zwischen den beiden immer deutlicher und eine Abwärtsspirale aus Gewalt, Eifersucht und Verrat beginnt. Hans, 34 Jahre älter als Katharina, verheiratet und Vater eines Sohnes, ist leider genau der Peter Pan Typ, den man vermutet. Unfähig, seine Frau zu verlassen, mit der er eine Art Abkommen in Bezug auf seine Untreue hat, und immer kurz davor, Katharina zu verlassen, da er bereits ahnt, dass sie ihn eines Tages verlassen wird. Er versucht, sie zur Unterwerfung zu zwingen, und was als einvernehmliches Rollenspiel während des Sex beginnt, eskaliert bald zu reiner Gewalt, die den Schleier der Romantik abstreift und eine toxische und missbräuchliche Beziehung hinterlässt. Eine Bewegung von Liebe zu Hass, die in gewisser Weise die Desillusionierung vieler widerspiegelt, als die idealistischen Versprechungen der DDR härteren Realitäten wichen.

Interessanterweise beginnt auch Coco Mellors' Erfolgsroman Cleopatra und Frankenstein mit einer intensiven, zufälligen Begegnung, die die Geschichte vorantreibt und Themen wie Unvermeidlichkeit und Schicksal aufgreift. Das wirft die Frage auf: Was suchen diese schönen jungen Frauen bei älteren Männern, die oft in knappen, fast lapidaren Begriffen einfach als „gutaussehend“ beschrieben werden? Beide Bücher erinnern mich an Songs wie Lana Del Reys Summertime Sadness oder Sofia Coppolas Film Priscilla. Sie beschreiben junge Frauen, die praktisch alles tun und sein könnten, was sie wollen, sich aber in Beziehungen wiederfinden, die heiter und unterstützend beginnen und dann in Selbstzerstörung enden. Vielleicht liegt die Antwort in der Verbindung von Naivität und trügerischem Verhalten, das die Illusion von Erfahrung, finanzieller Stabilität und Sicherheit schafft – Fantasien, die, wie beide Romane zeigen, mit hohen Kosten und Opfern verbunden sind.

Jenny Erpenbeck, die in der DDR aufgewachsen ist, gelingt es, die Atmosphäre eines kollabierenden politischen Systems mit der einer Beziehung zu verknüpfen. Erpenbeck, bereits eine bedeutende Figur in der internationalen Literaturszene, festigte ihren Ruf, indem sie dieses Jahr den International Booker Prize gewann und Kairos damit zum ersten deutschen Buch in Übersetzung wurde, das diese Auszeichnung erhielt. In der Juryentscheidung hieß es, dass „es zwar mit Liebe und Leidenschaft beginnt, aber es mindestens ebenso um Macht, Kunst und Kultur geht. Die Selbstbezogenheit der Liebenden, ihr Abstieg in einen destruktiven Strudel, bleibt mit der größeren Geschichte Ostdeutschlands in dieser Zeit verbunden und trifft die Geschichte oft in verqueren Winkeln.“

Im Prolog von Kairos ist Hans gerade gestorben. Wir befinden uns in der Gegenwart, etwa 30 Jahre später, und Katharina, die zwei Kisten mit Dokumenten von ihm posthum erhält, durchforstet diese. Zuvor hatte er sie gebeten, zu seiner Beerdigung zu kommen. – Sie hat es nicht geschafft.

Weitere Informationen zu dem Buch / den Bücher und wo sie ausleihbar sind, finden Sie anstehend in den Links zum Thema.

ÜBER DIE AUTORIN

Sophia Hembeck © Sophia Hembeck Sophia Hembeck ist eine zweisprachige Autorin und interdisziplinäre Künstlerin, die in Edinburgh lebt. Sie studierte Dramaturgie an der Universität der Künste in Berlin und hat bisher zwei Essaysammlungen auf Englisch veröffentlicht (Things I Have Noticed & Things I Have Loved). Derzeit arbeitet sie an ihrer dritten Essaysammlung, die die Things-Trilogie abschließen wird. In ihrem monatlichen Substack-Newsletter The Muse Letter schreibt sie über die Seltsamkeit des Lebens. 

Der Artikel wurde zuerst vom Goethe-Institut Glasgow im Dossier Buchblog: Literaturverkostung veröffentlicht.

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