Mariana Leky
Was man von hier aus sehen kann

„Was geschieht, wenn man sein Leben lang von denselben Menschen umgeben ist; von Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, aber die man im Laufe der Zeit vielleicht besser kennenlernt als sich selbst?“
Im internationalen Bestseller „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky steht das Okapi, die seltene zentralafrikanische Waldgiraffe, bildhaft für ein Gefühl der Fremdheit in einer eigentlich vertrauten Umgebung – dem engen und verworrenen Sozialgeflecht eines Dorfes in der deutschen Provinz.
Von Prathap Nair
Der herzerwärmende Roman „Was man von hier aus sehen kann“, der im fiktiven Dorf Westerwald angesiedelt ist, geht seine gewichtigen Themen mit skurrilem Humor und emotionaler Eindringlichkeit an. Er beginnt mit Großmutter Selma, die von einem Okapi in Westerwald träumt. Der Traum gilt als schlechtes Omen, als Vorbote des Todes, denn die letzten beiden Male als er Selma erschien, kam am folgenden Tag jemand ums Leben. Wer wird dieses Mal an der Reihe sein? Diese Frage beschäftigt das ganze Dorf, in dem jede:r jede:n kennt, manchmal auf Kosten der eigenen Privatsphäre.Im Roman erscheint der Tod als unwillkommener Gast, der ein ländliches Dorf im Deutschland der 80er Jahre heimsucht. Nachdem die schaurigen Vorzeichen sich als zutreffend herausgestellt haben, sind alle Einwohner:innen, vom Optiker über den Einzelhändler bis zum zehn Jahre alten kleinen Martin, der mit Selmas Enkelin Luise zur Grundschule geht, verängstigt und fürchten das Klopfen des Schnitters an der eigenen Haustür zu hören.
Abergläubisch oder nicht, die Bewohner:innen des Dorfes, unter ihnen die aufgeweckte Luise, die den Roman erzählt, ringen mit Liebe, Verlust und den Unsicherheiten des Lebens. Wer ist der/die Nächste? Luise wird Zeugin des Kreislaufs von Leben und Tod und der Eigenarten der Dörfler:innen; dabei durchlebt sie eigene Höhen und Tiefen und knüpft neue Verbindungen. Mariana Lekys charmante Erzählung, makellos ins Englische übertragen durch Tess Lewis, ist eine berührende Studie menschlicher Beziehungen. Lekys Prosa zeigt sich amüsiert vom Aberglauben, während sie die Untiefen des Zwischenmenschlichen ergründet und Wegen nachspürt, mit dem Unvermeidlichen zurande zu kommen.
In diesem Interview erklärt Leky ihre Entscheidung, das Okapi zu einem zentralen Motiv des Romans zu machen und erzählt, dass sie, obwohl sie das Buch vor drei Jahrzehnten gelesen hat, noch immer wörtlich aus Arundhati Roys „Der Gott der kleinen Dinge“ zitieren kann.
Selmas Traum von einem Okapi ist ein auffallendes narratives Element. Wie kamen Sie auf diese Symbolik und was bedeutet das Okapi für Sie?
Ich war schon immer vom Okapi fasziniert und habe lange auf die richtige Geschichte gewartet, in der dieses eigenartige Tier auftauchen könnte. Was ich an ihm liebe, ist seine Unglaubwürdigkeit – es sieht aus, wie ausgedacht. Seine Körperteile scheinen nicht zueinanderzupassen, aber trotz seines seltsamen Aussehens ist es ein elegantes Tier. Auf eine ähnliche Weise scheinen manche der Figuren in meinem Roman zunächst nicht zusammenzupassen, doch am Ende finden sie Harmonie. In diesem Sinne ist das Okapi bezeichnend für Geschichte.
Westerwald, das Dorf des Romans, fühlt sich an wie eine eigene Figur. Was war Ihre Inspiration für diese eng verwobene, dörfliche Kulisse?
Die Geschichte spielt in einem Dorf der 1980er Jahre. Damals verbrachten die Menschen normalerweise ihr ganzes Leben am selben Ort, genauso wie alle ihre nahen Nachbarn. Diese Konstellation interessierte mich: Was geschieht, wenn man sein Leben lang von denselben Menschen umgeben ist; von Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, aber die man im Laufe der Zeit vielleicht besser kennenlernt als sich selbst? Ich wollte solche Beziehungen erforschen und ein kleines Dorf schien der perfekte Ort dazu.
Wie schaffen Sie es, über schwere Themen zu schreiben, über Verlust und Trauer, aber mit Humor und Leichtigkeit, auf eine Weise, die dennoch erbaulich erscheint?
Es gibt kein Rezept. Meiner Erfahrung nach sollten tragische Ereignisse in einem Roman mit einer sorgsam abgewägten Prise humoristischer Elemente garniert werden. Dann verschmelzen beide Elemente zu einem harmonischen Leseerlebnis.
Luises Aufwachsen ist zutiefst geprägt durch die Menschen um sie. Was sollen Leser:innen Ihrer Hoffnung nach aus ihren Erfahrungen und Beziehungen lernen?
Es gibt keine bestimmte Botschaft, die ich transportieren wollte. Eine von Luises Erfahrungen ist, dass jedes Mal, wenn sie lügt, etwas zerbricht. Im Rückblick ermöglicht ihr das, ein Leben zu retten. Und ich mag, dass sie und die Menschen um sie den Mut finden, sich einander anzuvertrauen (nachdem Selmas Traum ein Gefühl nahenden Unheils verbreitet).
Ich welcher Weise spiegelt der Glaube der Dörfler an den Okapi-Traum wirklichen Aberglauben wider oder den Versuch der Menschen, Leben und Tod Sinn abzugewinnen?
Ich habe ein großes Faible für Aberglauben, im Roman wie auch im wirklichen Leben. Ich finde es bewegend und kreativ, wie die Menschen versuchen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren. Es hat etwas Charmantes, wenn man so tut, als könnte man mit dem Unvorhersehbaren verhandeln, selbst, wenn es nur eine Illusion ist.
Wen lesen Sie zum Vergnügen oder zur Inspiration?
Einige meiner Lieblingsautor:innen sind Birgit Vanderbeck, Elisabeth Strout, Joachim Ringelnatz, Jonathan Safran Foer, Jonathan Franzen und Fred Vargas.
Haben Sie indische Autor*innen gelesen?
Ich habe Arundhati Roys „Der Gott der kleinen Dinge“ gelesen. Das Faszinierende ist, dass ich das Buch nur einmal, vor fast dreißig Jahren gelesen habe. Ich kann mich nicht im Detail an die Handlung erinnern, aber die Atmosphäre des Romans steht mir noch lebendig vor Augen. Ich kann sogar noch einzelne Passagen zitieren!
Anmerkungen der Übersetzerin: Tess Lewis zu ihrer Arbeit an Was man von hier aus sehen kann
„Was man von hier aus sehen kann“ ist ein berührender Roman über Liebe und Verlust und darüber, wie Begehren, Zuneigung und Misstrauen unseren Blick auf uns selbst und andere verzerren können. Mariana Lekys Schreibstil ist exakt und strukturiert – Motive, Themen und Bilder kommen unaufdringlich aber klar wieder und wieder zum Vorschein. Am Ende werden alle Erzählstränge sauber, aber nicht zu vorhersehbar verflochten. Leky spielt mit Klischees und nimmt sie so wörtlich, dass sie sich ganz frisch anfühlen. Sie verwendet Abstraktionen, um die Gefühlszustände ihrer Figuren zu verkörpern. Es war wichtig, diese Eigenheiten ihres Stils einzufangen und dabei die Leichtigkeit und Ironie beizubehalten, die ihren Romane auszeichnen.
Wenn ich ein Buch mit einer so unverwechselbaren Erzählstimme übersetze, vertiefe ich mich in die Schriften englischsprachiger Autor:innen, die eine ähnliche Qualität besitzen. Um Lekys subtilen und leicht mokanten Humor einzufangen, die Komplexität, mit der sie das Innenleben ihrer Figuren zeichnet und die Eleganz und Geschmeidigkeit ihres Stils, wandte ich mich dem Werk von Jane Austen und Penelope Fitzgerald zu. Für eine ähnlich mitfühlende Darstellung menschlicher Schwächen las ich Marilynne Robinsons „Haus ohne Halt“. Diese Vorgehensweise bei der Übersetzungen öffnet mir Türen zum Fremden wie zum Vertrauten.
Literaturübersetzungen sind eine Lebensader der Fantasie und ein Heilmittel für kulturelle Provinzialität. Wie beschränkt wären unsere Welt und unser Leben ohne sie!