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 Sie machen im Möbelhaus Mittagsschlaf, haben keine Probleme mit Überwachungsapps und essen Sachen... nun ja. Chinesen sind für Touristen häufig ein Mysterium. Aber nicht alle Klischees über das 1,4 Milliardenvolk treffen zu. Hund und Katze verspeist man nicht überall. Und im Norden gibt es durchaus auch große Menschen. Das „R“ können sie allerdings wirklich nicht aussprechen. In keiner der 56 Volksgruppen. © Jens Harder (Ausschnitt)

Jens Wiesner über „Cités - Beijing“
Zeichnen unter Kontrolle

Eigentlich wollte Jens Harder in Peking den rasanten Wandel recherchieren, der Chinas Hauptstadt in nur wenigen Jahren von einem endlos erscheinenden zweistöckigen Dorf zu einer wolkenkratzergespickten Mega-Metropole hat werden lassen. Doch vor Ort prallten der Kontrollzwang des Staates und das Freiheitsgefühl des Zeichners mächtig aneinander.
 
Auf den ersten Blick zeigen Jens Harders Bilder aus Peking alltägliche Eindrücke eines Touristen in der chinesischen Hauptstadt: Eine Gruppe Mädchen auf einem Steinkreis, der den Mittelpunkt der Erde symbolisieren soll. Menschen beim Go-Spiel. Tierische und menschliche Giebelfiguren auf einem Tempel. Gruppenfotos von Chinesen an der alten Pekinger Stadtmauer. Touristen mit Selfie-Sticks. Nette Impressionen, allerdings auch etwas unspektakulär.

Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir hinter diese Bilder blicken bzw. sehen, was Harders Zeichenstift nicht einfangen konnte und durfte. Also: Fragen wir beim Zeichner persönlich nach!

Ehrliche Stimmen und Fakten

Als Journalist kennt man ja das Problem, wie leicht es heutzutage ist, in die PR-Falle zu tappen. Fast alle Kontakte zu Unternehmen, Vereinen oder zur Politik laufen mittlerweile über Pressesprecher, die überaus gut geschult darin sind, ihre Arbeitgeber im möglichst guten Licht dastehen zu lassen. Gleichzeitig suggerieren sie dem recherchierenden Journalisten maximale Offenheit und geben sich in der Regel überaus hilfsbereit in Sachen Materialbeschaffung.

All das macht es schon in Deutschland nicht immer leicht, an ehrliche Stimmen und an Fakten zu gelangen, die nicht immer nur die guten Seiten zeigen. Aber: Möglich ist es allemal, auch wenn mitunter etwas mehr Arbeit und Mühe hineingesteckt werden müssen. Dass die Situation nicht überall so beschaffen ist, musste Harder erfahren, als er vor einigen Jahren nach China eingeladen wurde.

Wunschzettel für „Drawing Beijiing“

Der Zeichner wollte die Einladung zur Veranstaltungsreihe „Drawing Beijing“, während der er und seine Kolleg*innen zehn Tage lang je eine Zeichnung über die Stadt abliefern sollten, dazu nutzen, den Wandel der Stadt zur Mega-Metropole zu recherchieren.

„Dem Organisator hatte ich im Vorfeld einen sehr genauen Wunschzettel zukommen lassen: Ich wollte eine ganz normale Schule und eine ganz normale Fabrik besuchen und mich dort in Begleitung eines Dolmetschers selbstständig bewegen und Leute befragen dürfen. Dann wollte ich eine Reihe ganz normaler Leute treffen, um ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Wandel der Stadt festzuhalten – also mit den großen Planungen zur Olympia-Bewerbung oder dem rasanten Wachstum der Stadt in alle Himmelsrichtungen. Ich hatte die Hoffnung, Einblicke in das Leben dieser Leute zu bekommen, von ihrem Schicksal in Verbindung zu den ganzen Umwälzungen zu berichten – negative, aber auch positive Auswirkungen zu zeigen.“

Minutiös geplante Reise

Doch in China ticken die Uhren anders – gerade, wenn es um eigenständige Recherche geht:

„Wie naiv! Wir durften keinen Schritt allein unternehmen, ständig waren wir in einem großen Tross von bis zu vierzig Leuten unterwegs. Jeder Tag war vom Frühstück im Hotel gegen 8:00 Uhr bis zur abendlichen Heimkehr gegen 22:30 Uhr minutiös durchgeplant. Wir rieben uns nur stets aufs Neue ungläubig die Augen, was um uns herum geschah. In Sachen Reiseprogramm wurden wir in einer anfänglichen Pressekonferenz fast komplett vor vollendete Tatsachen gestellt – einzige Auswahl war Team A oder Team B anzugehören, da unsere Truppe für zwei, drei Tage aufgeteilt wurde, um ein paar verschiedene kleinere Ziele anzusteuern. Ansonsten immer dieser Riesentross, immer in großen, komfortablen Bussen, immer ausufernde Gelage, immer mit Unterhaltungsprogramm (z. B. eine Bootsfahrt über einen idyllisch gelegenen See, auf der plötzlich in einem der Boote eine chinesische Opernsängerin anhob, für uns zu singen; oder eine groß aufgezogene Show, in der unsere Handabdrücke in große goldene Sterne gepresst wurden, um später daraus irgendeinen Walk-of-Fame zu basteln).“

Hauptsache, alles unter Kontrolle

Das, was Jens Harder erzählt, erinnert den Schreiber dieser Zeilen an seine eigene Pressereise nach Asien vor einigen Jahren. Mit einem vom taiwanischen Staat finanzierten Stipendium für freiberufliche Journalisten ging es damals nach Taiwan. Staatlich organisierte Tagesausflüge mit Pomp und Gelage gab es damals auch – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die wenigen geplanten Ausflüge waren freiwilliger Natur, und wir konnten uns während des gesamten dreimonatigen Aufenthalts frei im Land bewegen und reden, mit wem wir wollten. Eine Möglichkeit, die Harder und seinen Kolleg*innen verwehrt wurde:

„Wir baten mehrmals, auf den ganzen Luxus zu verzichten und dafür mal einen Nachmittag ganz entspannt mit Leihrädern durch die Stadt fahren zu dürfen oder mal draußen an einer schlichten Garküche essen zu dürfen. Aber nix da – es wurden Sicherheitsbedenken ins Spiel gebracht, Hygienevorschriften, egal was, Hauptsache alles blieb unter Kontrolle.“  

Eher krampfig und lieblos

Die Bedingungen, unter denen die Zeichnungen entstanden, die Harder in seinem Comicband „Cities – empty places, crowded streets“ veröffentlicht hat, wurden genau kontrolliert:

„Bei unseren Fahrten waren der eigentlichen Attraktion (wie Tempel, Parkanlage, Theater oder Olympiagelände) immer Führungen und Vorträge vorgeschaltet. Von circa zwei Stunden vor Ort gingen durch die schiere Größe der Gruppe und das ganze Herumgeführe und Herumgerede circa 1,5 Stunden drauf. Am Ende hieß es dann immer, wir hätten nun 20-25 Minuten zum Zeichnen, bevor es schon wieder weiterging. Und genau in diesem Moment, wenn wir endlich unsere Skizzenbücher öffnen muss… -äh durften, richteten sich mehrere Kameras, Fotoapparate und Smartphones des Begleittrupps auf uns. Wir begannen uns schon vor der Entourage zu verstecken und mit ihnen Katz´ und Maus zu spielen, was leider nur wenig half.“

Dass sich diese Umstände auch auf die Qualität der Zeichnungen und die Auswahl der Motive auswirkten, ist Harder bewusst:

„Die Zeichnungen wurden durch diese ständige Zurschaustellung und Observation eher krampfig und lieblos; besonders mir fiel es schwer, unter diesen Bedingungen zu arbeiten (einige der Kolleginnen waren durch Live-Zeichnen zumindest Publikum eher gewöhnt als ich und stießen sich nicht ganz so an der Manege-artigen Situation). Auch auf die Auswahl der Motive wirkte sich das Theater nachteilig aus. Denn so unter Beobachtung stehend, wählt man eher etwas Offensichtliches oder besonders Attraktives aus bzw. kommt gar nicht in die Ecken, wo sich die richtig interessanten Blicke ergeben oder man seine individuellen Entdeckungen machen kann. Wir standen immer dort, wo bei geführten Touren der Guide sagen würde: „Machen Sie hier Ihr Foto, hier ist der beste Blickwinkel.“ Unsere Ergebnisse ähnelten sich deshalb oft auf eine sehr unangenehme Weise, wie in einem Zeichenkurs an der Volkshochschule, wie in einer Best-Of-Diashow.“

Der verengte Blick beim Zeichnen

Harder selbst gewöhnte es sich an, abends im Hotelzimmer auf der Basis vor Ort entstandener Fotografien und Skizzen zu zeichnen. Dass er sich jeden Abend an die Arbeit machen musste, hatte allerdings auch einen ganz praktischen Grund: Er musste liefern.

„Wir mussten die Zeichnungen absurderweise jeden Abend im Zimmer des Organisatoren abgeben, der alle entstandenen Arbeiten sofort aufwändig in Hochauflösung einscannte, um sie seinen Auftraggebern weiterzuleiten. Es wirkte wie das Einbringen der Tagesernte.“

Dieses Prozedere erklärt auch den auffälligen Stilwechsel innerhalb der Serie. Die Zeichnungen, die deutlich skizzenhafter wirken, sind eben jene, die Harder in China anfertigte. Alle weiteren Zeichnungen entstanden erst später in Harders Berliner Atelier unter Zuhilfenahme seines umfangreichen Fotomaterials.

„Auch diese Bilder schickte ich dann alle nach Beijing. Die meisten wurden dann auch in einem großen Gemeinschafts-Katalog über das Projekt publiziert (nur den dreiseitigen Comic über die Mauer nicht, der entstand später extra für meine Anthologie „Cities“).“
 
Das einzige Motiv in Harders Sammlung, das als eindeutig kritisch verstanden werden muss (die Hochhaustürme des chinesischen Staatsfernsehens als stampfender Riesen, der die traditionsreiche Dorfarchitektur zertrampelt), schaffte es übrigens nicht in eben jenen Projektkatalog.
 
„Es war mein Testballon, um zu prüfen, wie sie darauf reagieren würden.“
 
Harders ehrliche Bilanz heute:

„Alles in allem waren es unerträgliche Arbeitsbedingungen, denen wir uns fast nie entziehen konnten. Aber dennoch – wir haben bis heute enge Kontakte innerhalb der zehn Zeichner*innen und zum eigentlichen Organisator und alle schwärmen nach wie vor von der Zeit. Wir würden das Ganze sogar noch mal wiederholen – wahrscheinlich selbst ich, aber nur „unter strengen Auflagen“, denn ich habe nach wie vor einen sehr unangenehmen Nachgeschmack ob der dreisten Versuche zur Instrumentalisierung.“

Cités: Lieux vides, rues passantes (Französisch) – 28. August 2019. Verlag: ACTES SUD. Ab 23 EUR.

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