Barbara Buchholz über „Brüssel“ Zeichnen, um das Eis zu brechen und anzukommen
Den Berliner Zeichner Leonard Ermel zog es für sechs Monate nach Brüssel – in die heimliche europäische Hauptstadt des Comics. Mit seinen digitalen Tagebuchskizzen hat er ein Mittel gegen das Gefühl des Fremdseins gefunden.
Brüssel gilt manchen als die europäische Hauptstadt des Comics: Hier befindet sich beispielsweise seit mehr als 30 Jahren das Belgische Comiczentrum in einem ehemaligen Jugendstilkaufhaus. Es zeigt eine Dauerausstellung zur Comicgeschichte und hat verschiedene Wechselausstellungen. An vielen Orten der Stadt wird dem Comic mit großen Fassadenbildern gehuldigt, die sich auf einem „Parcours BD“ erlaufen lassen.
Außerdem gibt es in Brüssel gleich mehrere Kunsthochschulen, die den bandes dessinées oder dem beeldverhaal, wie Comics im zweisprachigen Brüssel auf Französisch beziehungsweise Niederländisch heißen, einen Studiengang widmen. Zum Beispiel die Ecole Supérieure Saint-Luc. An die zog es den Berliner Zeichner Leonard Ermel Anfang 2014 für einen sechsmonatigen Erasmus-Aufenthalt. Er studierte zu der Zeit Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. „Ich hatte den Drang, mich dem Comic mal länger zu widmen“, erzählt er im Rückblick. Auch die Möglichkeit, im mehrheitlich frankophonen Brüssel seine Französischkenntnisse aus der Schule aufzubessern, reizte ihn.
Digitale Tagebuchskizzen
„Bevor ich für nach Brüssel gegangen bin, war meine Idee, dass ich meine Erfahrungen mit dem Ort festhalten wollte“, erzählt Leonard Ermel. So stieß er zum Projekt Comic Transfer des Goethe Instituts. Auf dessen Blog veröffentlichte er seine digitalen Tagebuchskizzen.
Das erste Blatt zeigt etwa eine Reihe schmaler Altbaufassaden in warmen Farbtönen von Ocker bis Grün und Gelb mit den für Brüssel typischen Müllsäcken davor auf dem Bürgersteig. In einem dieser Häuser wohnt der Berliner Zeichner, zusammen mit mehreren Erasmus-Studierenden aus Frankreich. Sein zwangsläufiges „Bad in der Sprache“ bringt Leonard Ermel ebenfalls zu Papier: Mit schwarzen Finelinern und Aquarell zeichnet er sich an einem Tisch vor einem Teller Fritten (was sonst?!), umringt von fünf Frauen und einem Mann, die lebhaft in sich überlagernden Sprechblasen miteinander sprechen. Die dicken schwarzen Buchstaben sind teilweise unleserlich, lediglich einzelne französische Wörter sind zu erkennen – so wie der Nicht-Muttersprachler bei schnellen Unterhaltungen anfangs nur Bruchstücke heraushört.
Gegen das Fremdsein
Im vielsprachigen Brüssel, stellt Leonard Ermel beim Spaziergang im Park fest, sprechen selbst die Vögel eine fremde Sprache. „So ein lautes, aufdringliches Piepsen“, das in großen, schwarzen Lettern vielfach zwischen den kahlen Ästen der Bäume steht.
Gegen das Gefühl des Fremdseins hat der Zeichner ein Mittel gefunden: sich seine Umgebung mit Stift und Papier vertraut zu machen nämlich. Und so hält er seinen ersten Besuch im Waschsalon ebenso fest wie die Zeichen-Exkursion mit der Hochschule in Brüssels gigant(oman)ischen Justizpalast. Auf vielen Spaziergängen lernt er die neue Umgebung schätzen: „Brüssel als Stadt fand ich super.“ Nicht ganz nach seinem Geschmack war das Studium an der ESA Saint-Luc, das sehr verschult gewesen sei und wenige Möglichkeiten zu wählen geboten habe. „Ich habe relativ schnell gemerkt, dass mir das nicht frei genug war.“
Zeichnen in der jubelnden Fanmeute
Im Comic Transfer-Tagebuch aber werden mit dem Anbruch des Frühlings die Farben der Seiten lichter und bunter. Und dann – im Finale auf den letzten Seiten – wirken die Zeichnungen plötzlich schnell hingeworfen, mit breitem, ausfransendem Strich, und kommen in nur noch drei Farben daher. „Nachdem ich den 1:0-Sieg von Belgiens Nationalmannschaft, den Red Devils, gegen Russland im Stadion Roi Baudouin in sengender Hitze auf einem viel zu kleinen Bildschirm mitverfolgt hatte, verschlug es mich inmitten jubelnder Fans zum Grand Place.
Mit einem Leffe in der einen Hand und einem schwarzen, gelben und roten Stift in der anderen begann ich, zu zeichnen“, notiert Ermel dazu. Auf den Seiten hockt er mit rotem Fanshirt im Schneidersitz auf dem Kopfsteinpflaster des Platzes, dann sammeln sich schemenhafte schwarze Gestalten um ihn und verdecken ihn schließlich fast. „Zeichne uns!“, fordern sie auf Französisch. „So dick bin ich aber nicht“, beschwert sich eine, und ob er wohl dank des Alkohols so zeichne, fragt ein anderer. „Das war eine gute Möglichkeit, einfach mal mehr mit Leuten in Kontakt zu kommen“, erinnert sich Leonard Ermel. „Und es war ziemlich lustig.“
Zeichnen, um das Eis zu brechen und anzukommen – das scheint also zu funktionieren. Und auch, wenn Reisen derzeit nicht so gut möglich sind, werden bei der nächsten sicherlich Skizzenblock und Stifte im Gepäck sein: „Ich versuche eigentlich immer, mich auf Reisen dazu zu motivieren viel zu zeichnen.“