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Und Protest!
Weibliche Straßenkunst

Die Poesie der weiblichen Schritte: „Within her stride, Bangalore 2021
Die Poesie der weiblichen Schritte: „Within her stride, Bangalore 2021 | © Anpu Varkey

Streetart ist in Indien ebenso eine Form der Kunst wie auch des Protests. Ganz besonders für Frauen. Sie stärkt ihre Rolle in der Gesellschaft.

Von Oliver Schulz

Indien hat einige der kreativsten und innovativsten Straßenkünstlerinnen weltweit hervorgebracht. Viele von ihnen arbeiten heute nicht mehr illegal, sondern mit der Genehmigung von städtischen Immobilienbesitzern.

Die Kunst von Stärke und Leichtigkeit: „Dizzy“, Mahim Mumbai, 2018 Die Kunst von Stärke und Leichtigkeit: „Dizzy“, Mahim Mumbai, 2018 | © Anpu Varkey
Kopfüber hängt ein Mädchen von der Wand, überlebensgroß zwischen den Fenstern des Wohnhauses. Es ist unmöglich, das atemberaubende Wandgemälde im Viertel Mahim in  Mumbai nicht zu bewundern. 2018 hat es Anpu Varkey aus Bangalore geschaffen.

Nicht nur in Indiens Finanzmetropole, fast in allen Großstädten stößt man heute auf riesige, bunte Wandgemälde. Viele von ihnen sind von Frauen gemalt. Zu den bekanntesten gehören neben Anpu Varkey Künstlerinnen wie Jas Charanjiva, Kajal Singh, Jheel Goradia und Avantika Mathur. Sie haben zum Teil auch in westlichen Metropolen gearbeitet.

So alt wie Indien

In Indien ist die Straßenkunst nicht neu. Kunsthistoriker sagen sogar: Sie sei so alt wie das Land selbst. Schon die Traditionen der Madhubani- sowie der Gond-Malereien sind auf das Bemalen von Lehmwänden zurückzuführen.

Die moderne Graffitikunst hat ihre Ursprünge in den Sechzigern an der US-amerikanischen Ostküste. Die Unterschiede zwischen Graffiti und Streetart sind fließend. Aber während ein Graffiti im Wesentlichen dazu dient, ein Revier zu markieren, wollen viele Streetartisten vor allem ihre Meinung kundtun und mit den Menschen kommunizieren.

Direkte Resonanz auf die Arbeit

Die Frau als Opfer: „Eve Teasing“, Mumbai, Bandra, 2015 Die Frau als Opfer: „Eve Teasing“, Mumbai, Bandra, 2015 | © Jheel Ghoradia
„Wenn ich arbeite, habe ich eine ständige Flut von Leuten um mich, die plaudern, Ratschläge geben und Tee oder Früchte anbieten“, sagt Anpu Varkey. „Aber ich weiß vorher natürlich nie, was mich genau erwartet, dort, wo ich arbeite. Die intensive Kommunikation, die ich zum Beispiel einmal mit einer stummen und tauben Person über die Gebärdensprache hatte, zeigt deutlich, wie berührt die Menschen sind, wenn sie mich malen sehen.“ Regelmäßig blieben Menschen stehen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Es ist sehr befriedigend, eine direkte Resonanz zu haben, die zeigt, ob die Leute meine Arbeit schätzen oder nicht. Vor allem loben sie mich oft für meinen Einsatz und Aufwand.“

Zwar hat sich Streetart mittlerweile als Kunstform etabliert, aber bis heute bemalen viele Künstlerinnen auch ohne Genehmigung Wände. Das ist natürlich riskant. Die größte Gefahr besteht darin, von der Polizei erwischt zu werden. „Ich wurde fast eingesperrt, weil ich unser Land ,ruiniert‘ haben soll“, sagt Jheel Ghoradia. „Ich finde nicht, dass wir so einen Umgang verdienen, wenn wir die Wände voller Urin oder Paan-Spucke tatsächlich verschönern.“

Viele Streetart-Künstlerinnen brechen allein dadurch, dass sie als Frauen diese Kunstform praktizieren, Stereotypen. Manche protestieren direkt. Nach der Gruppenvergewaltigung in Delhi 2013 malte Jas Charanjiva zum Beispiel ein Bild einer indischen Frau an eine Wand. Ganz in rosa und traditioneller Kleidung. In der Rechten trug sie einen Schlagring aus den Worten „Boom“. Das Bild ging umgehend viral. Auch das Projekt Fearless Collective in New Delhi wurde nach der Vergewaltigung ins Leben gerufen. Streetart ist ein Teil des Programms. Es soll durch öffentliche Kunst die Rolle der Frauen in der Gesellschaft stärken.

Festivals in ganz Indien seit 2000er-Jahren

Frauen entdeckten die Kunstform für seit Beginn der 2000er Jahre für sich. In Delhi tauchten damals immer mehr Graffiti-Schriftzüge lokaler Künstler auf. Der bekannte Sprayer Daku besprühte etwa 2001 über Nacht neun Gebäude in Mumbai. Er wollte gegen das Durchgreifen der Polizei in Bars und Pubs in Mumbai protestieren. In ganz Indien formten sich Künstlerkollektive, die Wandgemälde im öffentlichen Raum hinterließen.

In den Jahren ab 2008 explodierte die Graffiti und Streetart-Szene in Delhi. Beim Streetart-Festival im unautorisierten Teil der „Khirkee Extension“ bemalten 2012 neben professionellen Künstlern auch einige Bewohner Wände. Es folgten Streetart-Festivals in Städten wie Chennai, Pune, Pondicherry. In Mumbai stand im März 2019 ein erstes Straßenkunstfestival nur für Frauen, „Ladies First“, auf dem Programm. Eine Woche lang bemalten Künstlerinnen die Gebäude und Wände auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern.

Im Grunde eine bürgerliche Kunstform

Spielerische Ehrung für die Arbeiter einer Kokosseilfabrik: „Tension“, Allapuzha, Kerala 2021 Spielerische Ehrung für die Arbeiter einer Kokosseilfabrik: „Tension“, Allapuzha, Kerala 2021 | © Anpu Varkey
Mittlerweile wird in Indien auch legal gemalt. Wie in anderen Ländern auch, genehmigen Immobilienbesitzer die Kunst: „Man kann den Eigentümer überzeugen, ihm versprechen, dass das Endprodukt die Wand wert ist, die er ,opfert‘“, sagt Jheel Ghoradia. Der Thrill sei damit allerdings ein bisschen weg. Streetart sei im Grunde ja eine freche Angelegenheit. Eben eine Kunst von der Straße.

Doch was dieser Kunstform in Wahrheit schon immer gefehlt hat, ist eine echte Straßenszene. Seit ihren Anfängen ist Streetart in Indien eine sehr bürgerliche Kunst, viele Vertreterinnen kommen aus der oberen Mittelschicht. Denn es nicht ganz billig, die Wände der Metropolen zu bemalen. Umgerechnet fast sechs Euro (circa 450 Rupien) kostet eine Spraydose. Das können sich echte Straßenkinder nicht leisten.

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