Tagebuchnotizen aus Chennai
Kunst für die Öffentlichkeit
Die Wand vor dem Beginn des Projekts "Graphic Travelogues Murals" im Kunstviertel Kannagi in Chennai, Tamil Nadu | © St+art India Foundation
Unser Autor Faizal Khan beobachtet das Projekt Graphic Travelogues #Murals von Beginn an. Nach dem erfolgreichen Abschluss im Lodhi Art District in New Delhi, ist er Aashti und Greta nach Chennai gefolgt. Hier verfolgt er für uns das Geschehen an der Wand in Kannagi.
Tag 1:
Ankunft der Künstlerinnen Aashti Miller und Greta von Richthofen in Tamil Nadus Hauptstadt Chennai für die Arbeit an ihrem zweiten Wandbild für das Graphic Travelogues Murals Projekt. Ein spannender kuratierter Rundgang durch das Lodhi Kunstviertel und ein gut besuchtes Treffen mit den Künstlerinnen am Goethe Institut/Max Mueller Bhavan in Delhi nach Vollendung ihres ersten Wandgemäldes liegen bereits hinter ihnen.In Kannagi Nagar, einem von der Regierung errichteten Umsiedlungsgebiet für die Überlebenden des verheerenden Tsunami von 2004, wird in den kommenden zwei Wochen das zweite Wandgemälde entstehen. Fish Out of Water von Miller und von Richthofen ist das neueste Mural im Kannagi Art District am Stadtrand von Chennai.
Kannagi Nagar ist nach der Hauptfigur eines alten tamilischen Epos, Silappatikaram (Die Geschichte des Fußkettchens), benannt. In diesem Epos des Dichters Ilango Adigal aus dem 5. Jahrhundert führt die furchtlose Kannagi einen Kampf für die Benachteiligten und Schwachen. Im Umsiedlungsgebiet gibt es 24.000 Wohneinheiten für 100.000 Menschen.
„Die Fischerfamilien haben durch den Tsunami ihr Zuhause verloren und konnten hier in neue Häuser ziehen. Das Wandgemälde behandelt das Thema Vertreibung und das Gefühl von Heimat“, so Miller und von Richthofen, die mit ihrer Arbeit der Widerstandskraft und dem Überlebenswillen der Bewohner*innen von Kannagi Nagar ihre Anerkennung zollen wollen.
Das Wandgemälde entsteht nahe einer Hauptverkehrsstraße, die sich in kleine Nebenstraßen verzweigt, die in das lebhafte Umsiedlungsgebiet führen. Die Wand hat bereits eine frische Grundierung mit blauer Farbe erhalten.
Tag 2:
Die Ankunft der beiden Künstlerinnen am Standort des Wandgemäldes wird aufgeregt erwartet. Vom Balkon eines nahegelegenen Hauses werden Miller und von Richthofen mit einem kollektiven „Hi“ begrüßt.Drei Mädchen auf dem Balkon winken ihnen fröhlich zu. Die beiden Künstlerinnen winken begeistert zurück und begrüßen die Kinder ebenfalls mit einem „Hi“.
Im ersten Stock des dreistöckigen Hauses, an dessen Mauer das Wandbild entstehen soll, haben die Bewohner*innen geschmackvoll Töpfe mit buntem Hibiskus platziert.
„Die blaue Farbe bietet den perfekten Hintergrund für die anderen Farben und die Objekte“, erläutert von Richthofen ihre Entscheidung für Blau als Grundfarbe.
Bei Sonnenuntergang werfen die Künstlerinnen mit Laptop und Projektor einen digitalen Entwurf auf die Mauer, um die Umrisse des Wandgemäldes nachzuzeichnen. Dieser aufwändige Prozess nimmt mehrere Stunden in Anspruch.
Tag 3:
Das Wandgemälde in Kannagi Nagar wird etwa 12 Meter breit und 13 Meter hoch, also fast 3 Meter höher als das erste Wandbild in Delhi sein.Unterhalb der Mauer werden die unterschiedlichen Farbkombinationen für die ersten Pinselstriche vorbereitet.
Am frühen Morgen klettern die Künstlerinnen auf die Plattform der Hebebühne und verschwinden schon bald an der obersten Ecke der Mauer, um die am Vorabend gezeichneten Umrisse mit Farbe zu füllen.
Als erste Farbe erscheint Gelb auf dem Wandgemälde.
Im Tagesverlauf zeichnet sich in der linken oberen Ecke der Mauer immer deutlicher ein riesiger Wal ab.
Tag 4:
Auf der riesigen Wand sind immer mehr Farben und eine noch größere Zahl von Objekten zu sehen. Die beiden Künstlerinnen haben bewusst besonders viele Fische in ihr zweites Wandgemälde integriert, um eine Verbindung zu den nach Kannagi Nagar umgesiedelten Fischerfamilien herzustellen, die durch den Tsunami von 2004 ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlagen verloren.Die Anwohner*innen von Kannagi Nagar nennen ihre neue Siedlung auch Tsunami Nagar.
Die beiden Künstlerinnen werden zu einem Kulturfestival in der Stadt eingeladen, das am Vorabend des Internationalen Frauentags als Fest für Frauen in der Kunst veranstaltet wird. Ein Thema des vom DakshinaChitra Museum organisierten Utsavam (ein tamilischer Ausdruck für Festival) sind die Graphic Travelogues. Das vom Architekten und Fotografen BRS Sreenag moderierte „Gespräch mit den Künstlerinnen“ ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen dem DakshinaChitra Museum und dem Goethe Institut Chennai
„Das Wandgemälde gehört vor allem den Menschen in Kannagi Nagar. Es ist vollkommen gleichgültig, wer es gemalt hat“, betont Miller auf der Veranstaltung. „In meinen Geschichten sind die Hauptfiguren alle weiblich“, sagt von Richthofen, die ihre erste Graphic Novel im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, zum Schwerpunktthema des Festivals, Frauen in der Kunst.
Früher am Tag hatte es in Chennai bereits geregnet. Eine Person aus dem Publikum des Utsavam stellt die Frage, was die Künstlerinnen bei Regen machen: „Wie könnt ihr im Regen malen?“ Miller witzelt: „Deshalb sind wir ja hier.“
Tag 5:
Das Wandgemälde erstreckt sich inzwischen auf neue Bereiche und füllt die Mauer mit vielen unterschiedlichen Bildern. Auch von seinen Schöpferinnen gibt es Neues zu berichten.Greta von Richthofen hatte während der Arbeit am ersten Wandgemälde in Delhi Gelegenheit, viele Wörter in Hindi zu lernen, und hat in Chennai eine neue Freundin gefunden. „Greta hat sich bereits mit Sheela angefreundet, die in dem Gebäude lebt“, freut sich Miller. Nun ist es an der Zeit, dass von Richthofen ihren Wortschatz in einer der ältesten Sprachen der Welt, Tamil, erweitert.
Das Wandgemälde erregt nicht nur die Aufmerksamkeit der Menschen aus der Nachbarschaft, sondern auch von Kunststudierenden aus der Stadt. Zwei Studierende der Bildenden Künste vom Stella Maris College in Chennai sind gekommen, um den Künstlerinnen ihre Unterstützung anzubieten.
„Viele Menschen unterstützen uns bei unserem Projekt“, kommentieren Aashti Miller und Greta von Richthofen die Hilfsbereitschaft der Menschen in Kannagi Nagar.
Kinder kommen zum Spielen auf das Graphic Travelogues Murals Projektgelände. Sie sind fasziniert von den vielen verschiedenen Farben, die Tag für Tag auf der riesigen Wandfläche erscheinen. Die beiden Künstlerinnen verwenden 29 Farbtöne für das Wandgemälde in Chennai, 15 mehr als für das Wandbild in Delhi.
Tag 6:
Rund um das Graphic Travelogues Murals Projekt in Kannagi Nagar gibt es Lernangebote für Kinder. Im Gemeinschaftszentrum des Kunstviertels werden Tanz- und Musikkurse angeboten, in denen die begeisterten Kinder ihr Repertoire um neue Tanzschritte und Lieder erweitern können.Traditionelle und volkstümliche Künste spielen in den Lernangeboten ebenfalls eine große Rolle. Beispielsweise gibt es Unterricht in Silambam, einer alten traditionellen tamilischen Form der Kampfkunst. Oder die Kinder erfahren etwas über Parai, eine volkstümliche Tradition des Erzählens, die von Trommelschlägen begleitet wird.
Die beiden Künstlerinnen berichten, dass es jeden Tag sehr viel Austausch mit den Anwohner*innen von Kannagi Nagar gibt.
„Die Künstlerinnen sind sehr freundlich“, sagt Rajendran, der nach dem Tsunami 2004 in das Viertel umgesiedelt wurde und seinen Lebensunterhalt inzwischen mit dem Streichen von Hauswänden verdient.
Tag 7:
Das Wandgemälde in Chennai erstreckt sich inzwischen in alle vier Ecken der riesigen Mauer in Kannagi NagarDas Kunstwerk nimmt direkt auf die umgesiedelten Menschen des Viertels und ihre Verbundenheit mit dem Meer Bezug, behandelt aber auch universelle Themen wie Empowerment und eine bessere Zukunft für alle.
„Das Hauptthema ist Reisen“, sagt Miller, nachdem sie lange einen frisch gezeichneten dunkelblauen Streifen am unteren Rand der Mauer betrachtet hat. „Der blaue Farbton passt hier nicht so richtig“, kommentiert sie ihre Farbwahl, mit der sie nicht besonders zufrieden ist.
Das Wandgemälde auf einer fensterlosen Mauer im Wohnviertel von Kannagi Nagar ist so gut wie fertig. Hier sind die Wohnungen auf beiden Seiten des Wohnblocks auf jeder Etage durch einen gemeinsamen Flur voneinander getrennt. „Die Mauer in Delhi hatte durch die vielen Fenster einen ganz eigenen Charakter“, so von Richthofen. „Das Gemälde in Chennai zeichnet sich durch seine Übergänge und Farbverläufe aus.“
In Delhi bestand das Publikum vor allem aus Anwohner*innen aus der Nachbarschaft, die verschiedenen Aufgaben nachgingen, Schüler*innen auf dem Heimweg vom Unterricht, Menschen auf ihrem Weg zum nahegelegenen Markt oder Liebhabern von Wandgemälden, die aus allen Winkeln der Hauptstadt fast schon magnetisch in den Lodhi Art District gezogen wurden. „An unserem letzten Arbeitstag kamen viele Anwohner*innen, um das Wandgemälde zu betrachten und mit uns ins Gespräch zu kommen“, berichten die beiden Künstler*innen
„In Chennai leisten uns die Menschen aus dem Viertel von morgens bis abends Gesellschaft beim Zeichnen.“ Man könnte den Eindruck gewinnen, ein ganzes Meer von Künstler*innen und nicht nur Miller und von Richthofen zeichnen Fish out of Water.
Tag 8:
Am Standort des Wandgemäldes, das nun in seiner ganzen Farbenpracht erstrahlt, herrscht hektische Geschäftigkeit. „Wir haben die letzte Phase erreicht, in der wir die Linien einfügen“, sagt Miller.Inzwischen gibt es zwei Hebebühnen, die die Künstlerinnen an den oberen Rand der Mauer transportieren. An den vorherigen Tagen stand ihnen nur eine einzige zur Verfügung. In Delhi hatten die Künstlerinnen mit nur einer Hebebühne gearbeitet. „So geht es deutlich schneller“, kommentiert von Richthofen
Während des gesamten Graphic Travelogues Murals Projekts war bei den beiden Künstlerinnen Improvisationstalent gefragt, von der Zeichnung der ersten Entwürfe am Computer bis hin zur Farbauswahl für die beiden Wandgemälde in Delhi und Chennai. Die Künstlerinnen experimentieren mit Formaten und erfinden Elemente, damit sich der Entwurf bis in die Flure des Wohngebäudes in Chennai „zieht“, wo das Wandgemälde kurz vor seiner Vollendung steht.
„Dank der improvisierten Elemente wirkt das Gemälde vollständiger und fügt sich besser ein“, erklären die Künstlerinnen.
Neben spontanen Anpassungen, Farbwechseln oder dem Mischen neuer Farbtöne, die gut zur Mauer passten, stellte das Projekt die beiden Künstlerinnen, die zum ersten Mal an einem Wandgemälde arbeiteten, auch sonst vor zahlreiche Herausforderungen. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken.
„Zwei Wandgemälde“, sagt Miller strahlend. Und von Richthofen schließt sich ihr an: „Ich hoffe, ich kann noch einmal an so einem Projekt arbeiten. Und hoffentlich auch wieder mit Aashti.“