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Haiti© Sebastian Lörscher

Sergey Korneev about "Haïti Chéri"
Zu sich selbst finden über die Blutstropfen eines Kampfhahnes

„É Blanc!“ (He, Weißer!) - spricht jeder Entgegenkommende den unförmigen und zerzausten Europäer an. Der Künstler Sebastian Lörschner wurde in Paris geboren, wuchs in München auf, lebt in Berlin und reiste in solche Länder, in die Sie, auch wenn Sie diese im National Geographic gesehen hätten, kaum hätten reisen wollen. Er spricht Französisch, Deutsch und Englisch. Aber seine Zeichnungen - mit jeder spricht er in einer eigenen Sprache. „Haïti Chéri“ - das ist ein expressionistisches Palimpsest: seine Linien, Farben und abgerissenen Phrasen beeindrucken stärker als die Realität selbst. Du liest und spürst die brennende Sonne auf der Haut. Du hörst die Schreie des Straßenpredigers. Du riechst den Geruch des Schweißes im überfüllten Omnibus, stechend, wie Halluzinationen nach LSD. Durch „Haïti Chéri“ so weit von zu Hause reisend - findest Du zu Dir selbst. Das ist Haiti. Das ist Île-à-Vache. He Weißer, was hast Du hier verloren?

2020 hat uns in den Wohnungen eingesperrt. „Ich liebe es am meisten zu reisen“, spricht Sebastian Lörscher über sich selbst., „und ich zeichne ständig. nachts, bei strömenden Regen, wenn es schneit oder stürmt, unter tanzenden Menschen, auf Demonstrationen. Mir gefällt es wenn die Welt in Bewegung ist.“ Die Energie der Bewegung - das ist das erste, was Du spürst, wenn Du seine Bücher liest. Im Jahr 2012 hat er fünf Jahre auf Haiti gelebt und unterrichtete dort Englisch und Zeichnen für Kinder aus den Armenvierteln von Port-au-Prince. Damit ich bequemer mit dem Buch arbeiten kann, erstellt Sebastian eine digitale Kopie - 220 Seiten Gespräche, die er in den Straßen, auf geselligen Abenden in den Slums und Voodoo-Ritualen auffing. Ich blättere diese durch, um interessante Details für den Artikel zu finden, und öffne plötzlich das Kapitel „Batay kòk“ (Cockfight) und ich erstarre.

Das Gedächtnis erwacht

Vor zehn Jahren habe ich das erste Mal einen Hahnenkampf gesehen. Es scheint, als wäre dies in einer anderen Welt. Ich reiste mit einem Freund mit dem Spitznamen „Schwede“ im Auto über die Halbinsel Krim. Damals reisten wir dorthin noch wie in jedes andere Land. Und in Russland waren die Menschen noch nicht zerstritten wegen des verfluchten Symbolismus dieses Stückchens Erde. Der Schwede fragte einfach: „Fahren wir los?“ Und ich warf den Rucksack zu ihm in den Kofferraum. Wir fuhren ohne einen besonderen Plan, hielten dort, wo es uns interessant erschien. An diesem Tag wollten wir bis in die Höhlenstadt Tschufut-Kale gelangen, aber wir haben von der Straße aus eine riesige Menschenmenge entdeckt. Wir haben uns angeschaut und sind abgebogen. Wir haben uns inmitten des tatarischen Hederlez-Festes (ein Frühlingsfest) wiedergefunden - ein Feld, welches gestern noch leer war, füllten Tausende Menschen. In den Rundzelten bogen sich die Tische unter den Süßigkeiten. Bis zum Horizont zog sich die „Straße“ der Grills hin, auf denen Fleisch gegrillt wurde.

Ich erinnere mich daran, dass auf einem der Felder man sich im Kurash übte: die Kämpfer versuchten, sich aneinander an den breiten Hüftgürteln zu fassen und auf die Schultern zu werden. Ihre Gürtel waren so prachtvoll! Rot. Und grün. Mit langen Enden, die direkt die Matte berühren. Auf einem anderen Feld wurde ein Kreis installiert für Reiterspiele. Aber eine besonders fieberhafte Anspannung ging von einer Menge aus, die sich dicht an der Seite drängte. Die Männer standen so dicht, dass man nicht erkennen konnte, worauf in der Mitte sie schauten. Mir gelang es mich durchzudrängen und ich habe erstmals einen Hahnenkampf gesehen.

Zwei Hähne kämpften miteinander um ein Stück Fleisch. Das kann man unmöglich poetisch beschreiben. Klägliche Fleischreste Aufgerissene Wunden. Ein tiefer pfeifender Ton, mit dem die Luft aus den Kehlen der ermüdeten Hähne herausgeschleudert wird. Sehr helles Blut. Der nackte Kragen des Siegers ist von abstoßenden Schrammen überdeckt. Der Hahn schaute mit irrsinnigen Augen. Insgesamt war dies ein sehr seltsames Lebensgefühl. Erschreckend - ja. Aber auch irgendwie auf besondere Art pulsierend. Dass Kapitel „Batay kòk“ habe ich für „Haïti Chéri“ als zentrales benannt. Sebastian Lörscher hat uns über mehrere Seiten an die Kampfszene herangeführt. Er erzählt über die Vorbereitung. Darüber, was die traditionellen Hahnenkämpfe für die haitianischen Männer bedeuten. Seine Beschreibungen sind ausführlich, und die Zeichnung ist voller Details. Aber als die Angelegenheit zum Kampf wird - verwandeln sich die Hähne in aufgebrachte Zickzack-Bewegungen mit dem Bleistift. Eine reine Abstraktion, welche in mir realistische Erinnerungen weckt.

Die Musik der Zeichnung

Sebastian sagt, dass ihn das Schaffen von Hugo Pratt (Corto Maltese) und Joann Star (Die Katze des Rabbiners) inspiriert. Wenn ich die Illustrationen von „Haïti Chéri“ betrachte, so
erinnere ich mich an „Le Photographe“ (Émile Bravo, Emmanuel Guibert, Frédéric Lemercier) und die „Graphic Repotages“ von russischen Begegnungen von Viktoria Lomasko. Eine Zeichnung von Lörscher ähnelt einem gut intoniertem Lied. Den Leser an den emotionalen Höhepunkt heranführend recht Sebastian ein deutlicher Akzent. Und eine solche „Note“ klingt durchdringender als eine ganze Symphonie.

Es ist interessant zu vergleichen, wie sich der Stil einer Zeichnung in verschiedenen Arbeiten von Sebastian ändert. In Making friends in Bangalore gibt es mehr Humor und karikaturhaftes. „Haïti Chéri“ ist näher am dokumentarischen Genre der Journalistik: so viele Personen, so viele Geschichten, so viele Emotionen. Den Erzählungen und Eindrücken folgend, sprengen die Comic-Wolken und Notizen förmlich den Raum einer Seite und dringen in die Realität des Lesenden ein.

Die Farbe spielt auch eine wichtige Rolle. Die ersten grellen exotischen Eindrücke (Sie müssen unbedingt das Kapitel sehen, welches den Taxis von Haiti gewidmet ist - tap-tap!) wechseln sich ab mit den einfarbigen tiefen und persönlichen Erzählungen der Gesprächspartner. „Für mich ist Zeichnen ein verfahren, um die Tür zu den Menschen und ihren Geschichten zu öffnen“, wiederholt Sebastian gerne. 

Um besser zu verstehen

Über solche Länder wie Haiti, Kuba, Brasilien gibt es einen verbreiteten Stereotyp - die Menschen dort leben in Armut, sind aber wirklich glücklich. Das Buch von Sebastian Lörscher sieht nur auf den ersten Blick aus wie eine einfache Reisebeschreibung (travelogue) in Skizzen. In Wirklichkeit ist es ein tiefes Eintauchen in das Leben vor Ort. Ja, der Autor schaut auf vieles mit dem Blick eines reisenden Ausländers. Aber es ist ihm gelungen, den blind machenden Zauber des Exotischen zu vermeiden. Er romantisiert nicht die einfache und schwere Arbeit der örtlichen Bewohner. Und er verwendet keine Slums als schönen Hintergrund für seine Zeichnungen: der Hauptheld der Kurzgeschichte "Sun and Shadow" von Ray Bradbury würde Sebastian nicht davonjagen, wie er es mit dem Werbefotografen tat, der eine modische Fotosession in Fabeln aufnahm.

In der Annotation des Autoren beschreibt Sebastian ehrlich seine Eindrücke. „Haiti - das ist ein Land voller Gegensätzlichkeiten: von Wundern, Geheimnissen und kultureller Vielfalt. Voll von bitterer Armut, Kriminalität und ungelöster Probleme. Ein Land zwischen Hoffnung und Depression, zwischen Leben und Überleben.“ Jedoch hinterlässt das Buch keinen bedrückenden Eindruck. Aber es weckt den Wusch, sich besser in dieser komplizierten Welt, in der wir leben, zurechtzufinden. In jenem komplizierten Persönlichkeiten, die wir selbst und die uns umgebenden Menschen sind. Reisen sind hierfür ein ausgezeichnetes Mittel. Reisen und solche Bücher wie „Haïti Chéri“. 
 
Handgebundene und mit Originalzeichnung versehene Exemplare können beiSebsatian Lörscher persönlich bestellt werden.

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