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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Ameruende Waschmaschinen und das freundliche Antlitz der Scham

Illustration: Zwei Personen, links ein etwas verschüchtert wirkender Mann mit Oberlippenbart, rechts eine wütend wirkende Frau mit erhobenem Zeigefinger
Die Lizenz zum Durchdrehen | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Auf seiner Japanreise lernt Jan Snela das Konzept der Anlehnung kennen. Das gewährt nicht nur Kindern viel Narrenfreiheit. Sondern auch Waschmaschinen.

Von Jan Snela

In meiner Kindheit, als Roboter noch eine relativ exotische Angelegenheit für scifi-gebriefte Hirne waren, liebte ich es, einen Roboter out of control zu spielen. Ich bewegte mich wie eine mechanische Ballerina in sich steigerndem Tempo und sagte, lange bevor unsere Navis das Sprechen lernten, so elektronisch wie mir nur irgend möglich: „Aus-ser-kon-trol-le-aus-ser-kon-trol-le…“ Das Ziel der Übung war ein grundstürzendes Kollabieren. Das Außerkursgeraten beim Gang durchs Zimmer mit garantiertem Sturz, die Dinge im zentrifugalen Flug meines Schwindels, hinausgewirbelt aus einer allzu statischen Welt.

Bereitschaft zum Exzess

Eine eurozentristische, das heißt verengte, aber immer wieder begegnende Sicht auf Japaner*innen, ist die eines ameisenhaft disziplinierten Volks ohne Eigenleben der Individuen gegenüber dem Kollektiv. Wer sich ein bisschen näher mit der japanischen Kultur befasst, wird dahingegen früher oder später auch ans Phänomen einer Bereitschaft zum intensiven Exzess geraten. Ich habe mir sagen lassen, dass, wer nicht völlig austickt, wenn er*sie etwas Alkoholisches trinkt, in Japan als jemand betrachtet wird, mit dem*der etwas nicht ganz stimmt. Um nur ein Beispiel für die durchaus exzessive Ader Japans zu nennen. Das Japanische hat sogar ein eigenes Wort für die Lizenz zum Durchdrehen oder Sichgehenlassen: „amae“ (甘え).

Pappschild an einer Hausecke, es zeigt ein wütendes Kind Kinder müssen nicht brav sein | Foto: Jan Snela Wörtlich bedeutet das „Anlehnung“ und es beschreibt das spezifisch japanische Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern, das von einer für westlich subjektivierte Menschen kaum nachvollziehbaren Nachsichtigkeit im Sinne der großzügigen Gewährung von Narrenfreiheit geprägt ist. Populär gemacht hat den Begriff der Psychologe Takeo Doi mit seinem Bestseller Amae – Freiheit in Geborgenheit. Zur Struktur japanischer Psyche. Ich selbst stieß darauf im Buch Zwischen Mensch und Mensch des Psychiaters Bin Kimura. Kimura beschreibt darin wie Japaner*innen, etwa in Partnerschaften, einander eher als jähen Wechseln offene Wetterlagen – mit allen Möglichkeiten zwischen Sonnenschein und Taifun – betrachten, denn als vom Subjekt her berechen- und verpflichtbare Meinesgleichen. So sehr man im sozialen Kontext tatsächlich auf die vielfach den Japaner*innen nachgesagte Wahrung des nach außen gekehrten Gesichts bedacht ist: Wenn jemand im intimeren Kontext „aus der Rolle fällt“, gesteht man ihm*ihr das, Bin Kimura zufolge, in Japan sehr weitgehend zu. Wenn jemand ausflippt, lässt man ihn*sie – gemäß der Verbform von amae – „amaeruen“.

Eine Frau hält ihrem pinkelnden Hund ein Fläschchen vor Sauber pinkeln | Foto: Jan Snela Obwohl ich in Japan keinem der klar definierten inneren Kreise angehörte, innerhalb derer amae sich gewöhnlicherweise entfaltet, möchte mir trotzdem scheinen, mir sei die Erlaubnis zu amaeruen zu Gute gekommen. Dabei war nicht ich es, der sich in „Anlehnung“ übte, sondern die Waschmaschine in meiner Ferienwohnung in Nara. Schon bei einem Waschgang zuvor war mir ihr heftiger, dem außer Kontrolle geratenen Roboter meiner Kindheit in nichts nachstehender Schleudergang aufgefallen. Trotzdem ließ ich sie ein zweites Mal laufen – und ging spazieren. Während ich fasziniert einer Frau dabei zusah, wie sie die Losung ihres Hundes mit einer Wasserflasche tilgte, wo immer er sich erleichtert hatte, „lehnte“ die Waschmaschine in meiner Wohnung „sich an“. Allein zuhause schüttelte sie sich, stürzte von ihrem Sockel, schlug ein tiefes Loch in die Gipswand der Nasszelle und flutete den Boden mit Wasser.

Scham statt Schuldgefühl

Eine Waschmaschine in einem Flur Waschmaschine: müde vom Randalieren | Foto: Jan Snela Was es bedeutet, wenn man ominös davon spricht, dass es sich bei der japanischen Kultur im Gegensatz zur westlichen um eine Scham- statt um eine Schuldkultur handle, ging mir ahnungshaft auf, als ich bei der Agentur, die mir die Wohnung vermietet hatte, den Schaden meldete. Keine Spur der Notwendigkeit meine Unschuld zu beweisen, nicht der leiseste Hauch von Arg. Nur die inständig formulierte Hoffnung, mein Aufenthalt möge mir durch den Vorfall nicht verdorben worden sein. Als würden die Japaner*innen ihre randalierenden Waschmaschinen kennen wie ihre tobenden Kinder. Schon am nächsten Vormittag erschien eine einschüchternd elegante Transfrau („Don’t worry, I’m not a man“) in Begleitung zweier hausfrauenhafterer Frauen mit einer neuen Waschmaschine („Don’t worry, I’ll fix it tomorrow“). In einer deutschen Ferienwohnung hätten im selben Fall Wut und (Un!-)Schuld in mir ihren Schwesternzank begonnen. Hier mischte sich Dankbarkeit mit Demut und – schöner Scham.

Im deutschen Wikipedia-Artikel zum Phänomen amae steht, die extreme Nachsicht, die mit dem japanischen Wurzeln in einer Kultur der Anlehnung einhergeht, sei für Westler*innen oft irritierend. Mir zeigte sie, warum ich mich in Japan so geborgen fühlte wie bisher vielleicht nirgendwo sonst auf diesem Planeten mit all den auf ihm beheimateten Höflichkeiten und Rasereien.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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