Sprechstunde – die Sprachkolumne
Ich, Issa und Fuji-san

In seinem letzten Beitrag versetzt der magnetisch anziehende Sternenhimmel Südfrankreichs unseren Kolumnisten Jan Snela wieder nach Japan. Dort konnte er sich wandernd dem Fuji nähern. Und fühlt sich seitdem den Sternen nah.
Von Jan Snela
Sogar im Süden Frankreichs, wo ich umschwebt von den welligen, waldigfluffigen Gipfeln der Cevennen auf der Veranda sitze, ist Japan nah. Die Erdbeerbaumfalter, die man beinah für kleine Vögel halten könnte, saugen mit der emsigen Nonchalance ihres mir slightly suspekten Fleißes an den Früchten des Feigenbaums, der mir ein wenig Schatten spendet. In Die letzten Tage meines Vaters von Issa, dem Haikudichter, lese ich Sätze wie Auch dieser Baum ist Issa. Auch dieser Hund ist Issa. (Ich höre ihn bellen.) Auch diese Tigermücke (die mir gerade den Rüssel in die schon ganz zerstochene Haut am Unterschenkel schiebt) ist Issa. Auch ich bin Issa. Wäre das also geklärt.
Ampel horizontal
| Foto: Jan Snela
Unendlicher Nachthimmel
Nachts liegen wir auf der Veranda und schauen hinauf zu den Sternen. Ich, Issa, werde gefragt, ob ich das auch als so unheimlich empfinde, ein Gefühl des Hinausgesogenwerdens, als sei die Erdanziehung nicht garantiert. Ich weiß nicht genau. Jedenfalls habe ich den Eindruck, in diesem Dunkel, das zwischen den Sternen schimmert, die den Himmel hermetisch verschließen (als würde es Tausende Schlüssel brauchen, um sich die vermeintliche Weite zu eröffnen) ganz zu verschwinden. Heimlich. Vielleicht, weil ich spüre, dass ich es besser mit einem Wort zu fassen kriege, von dessen Bedeutung ich eine nur sehr vage Ahnung habe, vielleicht, weil ich weiß, dass ich morgen an dieser Sprachkolumne schreiben werde, vielleicht weil ich es zugleich nicht überhaupt nicht kommunizieren und doch für mich behalten möchte, flüstere ich mit geschlossenen Lippen: „Yūgen“ (幽玄)
Die Leichtigkeit des Fuji


Als Kind habe ich beim Anblick des Sternenhimmels immer der unendlichen Weite entsprechend gestaunt. Nie gestilltes Begehren, an die Ränder des Alls zu reichen. Vielleicht seit ich den Fuji in Kamakura sehen durfte, sind die Sterne mir wieder nah. Nur verborgen im Dunkel, das sie so wundersam dürftig erhellen. Als wären auch sie alle Issa, das kleine Licht. Und wenn ich am Tag auf die Hügel schaue, wie sie da schweben, ohne sich aufzudrängen, steht Fujiyama vor meiner Tür.
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.