Sprechstunde – die Sprachkolumne
Rilke mit partytauglichem Herz
Rainer Maria Rilke und Ulrike Almut Sandig: Beide haben Gedichte aus vielerlei Sprachen ins Deutsche übersetzt. Unsere Kolumnistin geht noch einen Schritt weiter: Sie überträgt zwei Rilke-Gedichte aus dem Französischen ins Heute, konzentriert sich auf den Reim – und lädt zum Tanz.
Von Ulrike Almut Sandig
In der vorletzten Folge dieser Reihe werfe ich noch einmal die Zeitmaschine Poesie an. Auf ins schweizerische Wallis der frühen 1920er- Jahre, wo ein leukämiekranker Dichter namens Rainer Maria Rilke seine „Nebenstunden“, wie er bescheiden sagte, mit dem Schreiben französischer Gedichte verbrachte.
Der französische Rilke
Das Französische war ihm buchstäblich Muttersprache: Seine eigene Mutter in Prag sprach es mit ihm und nannte ihn René. Rilkes französische Dichtung klingt, wie ich finde, mega nach Rilke.Les chansons des roses
Seinen Zyklus Les roses kenne ich nicht vom Lesen, sondern vom Hören. Seit einigen Monaten bin ich Sängerin bei Amaryllis, einem queeren Kammermusikchor in Berlin. Im Repertoire haben wir zwei Lieder aus Les Chansons des Roses, einer Vertonung von Morten Lauridsen. Singend lerne ich, dass Rilke nicht nur wegen des zarten Schwungs seiner Bildsprache nach Rilke klingt, sondern weil seine Texte in der präzisen Pause und dem Aushalten des Tons leben.Komischerweise folgen die meisten Übersetzungen seiner französischen Gedichte zwar Rilkes anmutiger Bildsprache. Aber die schönen Reime und anderes Klangmaterial werden nicht übernommen. Warum ist das so? Ich habe ein Experiment gestartet und mich an den beiden Gedichten versucht, die wir im Chor singen: Contre qui, Rose – von Lauridsen zu einer Nocturne vertont – und das Liebesgedicht La rose complète.
Untreues Nachdichten
Aber auch ich konnte nicht beides, Inhalt und Form, ins Deutsche zu übertragen. Oder hatte ich nur Lust auf was anderes? Jedenfalls warf ich irgendwann den Inhalt über Bord. Und behielt die schönen Reime. Herausgekommen sind zwei vom Original völlig verschiedene Gedichte, über die die Gegenwart hereingebrochen ist.In meiner Fassung von La rose complète tanzt der oder die Verehrer*in auf einer Party. Das lebenslange Einatmen in der zweiten Strophe des Originals materialisiert sich in einer Line Koks. Stilles Gefühl wird enthusiastische Tanzpose.
ich schwing mit deinem Wesen
vollkommene Rose, auf 320 Megahertz
mein Einvernehmen will dich lesen
mit partytauglichem Herz.
ich saug dich ein, als seist du, Rose
die Line fürs ganze Leben
und spür mich in perfekter Pose
zu deinem Tanze, Rose, beben.
Recht hat sie! In meiner zweiten untreuen Nachdichtung habe ich die Rose kurzerhand durch einen Troll ersetzt. Einen echten aus Fleisch und Blut, der im Internet sein Unwesen treibt. Er ist der dunkle Schatten von Rilkes besorgtem lyrischem Ich, das (aus heutiger Sicht voll übergriffig) fragt, wogegen die Rose sich denn so wehren müsse.
gegen wen, Troll
ließt du dir wachsen
solche Dornen, zarte Spikes?
welche Normen, zu harte Likes
warn vom dünnen Glück noch abzuknapsen
dass du nichts wurdest als deine eigene voll-
gestopfte Waffenkammer in Sachsen?
vor wem schützt du dich
mit diesem übertriebenen Hate?
wie viele Feinde hab ich
schon für dich niedergemäht
aus der Kalten heraus?
keine. von West nach East
sitzt du im Glashaus
und schießt.
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.