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Literaturkanon
An Kafka kommt keiner vorbei

Literaturkanon
Literaturkanon | Foto: © artisteer/iStock

Debatten in den Feuilletons, pragmatische Arbeit an den Schulen: vom Umgang mit Pflichtlektüre und der Frage nach ihrer Berechtigung.

Von Matthias Bischoff

Pflichtlektüre ist das Buch nicht – in vielen deutschen Schulklassen wird neben den Werken auf dem Lehrplan aber auch Wolfgang Herrndorfs beliebter Jugendroman Tschick gelesen. Das ist vielleicht schon Teil der Antwort auf die Frage, ob ein Literaturkanon wirklich zeitgemäß ist.  

Doch was ist eigentlich ein Kanon? Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Regel, Maßstab, Richtschnur“. Wer aber setzt den Maßstab? Heute ist zumindest Konsens, dass es für die Bildung eines Kanons dauerhaft eine feste Gruppe bräuchte, die sich auf diesen verständigt. Endgültig fixierbar ist er also nie. Diese grundsätzliche Offenheit hat bei vielen zu einer Ablehnung jedes Kanons geführt. Zumal immer wieder der Verdacht geäußert wird, mit der Setzung eines Kanons versuche eine bestimmte Gruppe, ihre kulturelle Dominanz zu zementieren.

Die vielfältige Gesellschaft widerspiegeln

Deutschland hat sich immer als Kulturnation mit Sprache und Literatur als einigendem Band verstanden. Vielleicht fordern deshalb viele, dass Schulabgänger hierzulande umfassende literarische Kenntnisse haben müssen. Allerdings stellt sich die Frage, welche Werke in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft zu einer solchen Pflichtlektüre gehören sollen. Bücher beispielsweise der türkischen oder arabischen Literatur gehören nicht zu jenen, die Schüler in Hamburg, München oder Köln laut Lehrplan zu kennen haben – obwohl viele von ihnen aus diesem Kulturkreis stammen.

Noch kommen die Einwände gegen einen Kanon jedoch aus einer anderen Richtung. Sie werden häufig von denen ins Feld geführt, die viel Wert auf die praktische Anwendbarkeit von Bildung legen. Sie stellen damit das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende Konzept von Bildung in Frage, für das etwa die Weimarer Klassik oder Wilhelm von Humboldts Universitätsideal stehen. So sorgte 2015 der Klageruf einer Abiturientin aus Köln für große Aufmerksamkeit. Sie schrieb auf Twitter: „Ich bin fast 18 und hab‘ keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen.“

Werben für die „Nützlichkeit des Unnützen“

Das Echo auf diesen Tweet war beträchtlich. In der Wochenzeitung Die Zeit plädierte Ulrich Greiner für die „Nützlichkeit des Unnützen“, also für das nicht auf alltagspraktische Anwendbarkeit zielende Befassen mit „Griechisch und Latein, Musik und Kunst“. Er kritisierte die deutsche Kulturpolitik, die eine umfassende Lektüre von kanonischen Texten zu Gunsten von praktischen „Kompetenzen“ geopfert habe. Zu jenen, die vehement für einen verbindlichen Kanon streiten, gehört auch Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. „Als Kulturwesen braucht der Mensch Orientierung und Wissen um seine Herkunft“, so Kraus. Es gehe um „einen Wertekosmos, der in 2000 Jahren europäischer Geschichte entstanden ist“.

Doch auch die Fokussierung  auf ältere Werke ist umstritten. So beklagte Sanda Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das nahezu vollständige Fehlen zeitgenössischer Literatur in den aktuellen Lehrplänen. Tatsächlich findet sich dort vor allem Etabliertes, immerhin taucht in Baden-Württemberg Agnes von Peter Stamm auf, auch Werke von Uwe Timm finden sich. In der täglichen Praxis gehen Lehrer pragmatisch und individuell mit dem Thema um. Der eine schärft anhand der Satire Er ist wieder da von Timur Vermes den kritischen Umgang mit Medien, der andere lehnt die Beschäftigung mit zeitgenössischer Bestsellerliteratur dagegen kategorisch ab.

Zentralabitur schafft Einheitlichkeit

Weniger Probleme haben die meisten mit Georg Büchner, von dem besonders die Erzählung Lenz und das Dramenfragment Woyzeck nicht nur auf den Lehrplänen stehen, sondern auch gern behandelt werden. Neben Erzählungen von Heinrich von Kleist – Pflichtlektüre in nahezu allen Bundesländern – und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann gibt es einen unangefochtenen Liebling der Lehrpläne und Deutschlehrer: Franz Kafka. An dessen Erzählung Die Verwandlung kommt nahezu kein deutscher Schüler vorbei, oft wird auch Der Prozeß gelesen, hinzu kommen die vielen Parabeln, Ideenfragmente, Briefe. Es ist ein offenes Geheimnis, dass dabei neben der echten Begeisterung für Kafka auch die gute Handhabbarkeit besonders der kurzen Texte im Unterricht eine Rolle spielt.

Doch auch ohne den Schulen detaillierte Vorgaben zu machen, haben die Bundesländer durch die Einführung des Zentralabiturs dafür gesorgt, dass in den Oberstufen im ganzen Land dieselben Bücher gelesen werden. Angesichts der sehr genauen Vorgaben, welche Bücher und Themenfelder geprüft werden, verringern sich die Freiräume für Lehrer. Überall stehen Schillers Dramen auf den Lektürelisten, ebenso bundesweit obligatorisch: Goethes Faust. Und das, obwohl viele Lehrer hinter vorgehaltener Hand sagen, das Werk sei für Schüler heute zu komplex. Eine anonyme Lehrerin schreibt im Netz gar: „Was ist eigentlich so besonders an Faust???“ Ein Lehrer, der so fragt, wird für Goethe wenig Begeisterung bei seinen Schülern wecken – und ohne die taugt der beste Kanon nichts.

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