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Gemeinschaftsbücherei
Eine neue Art von Liebe

The Community Library Project
The Community Library Project | © TCLP

Die aus Delhi stammende Autorin Mridula Koshy and ihr Partner Michael Creighton haben eine Community Bibliothek ins Leben gerufen. Das Projekt hilft hunderten von Kindern dabei zu Lesern, und noch wichtiger zu Denkern zu werden. Lesen Sie hier eine ganz persönliche Geschichte.

Von Mridula Koshy

Es war an einem Nachmittag, die Sonne fiel ins Zimmer und mein Dreijähriger wollte partout nicht sein Nachmittagsschläfchen halten. Ich neben ihm hingegen war dem Schlaf schon ganz nahe. „Es heißt Klopf-Klopf-Liebe“, sagte er und tätschelte mich. Er klang ein wenig überrascht und ein wenig stolz: „Amma, ich habe eine neue Art von Liebe erfunden.“
 
Ein anderer Nachmittag. Eine Gruppe von Frauen und ein Mann sitzen auf dem Fußboden der Bibliothek. Sie sind da, weil die Bibliothekarin sie eingeladen hat, die Bibliothek einmal so wie ihre Kinder und Enkel zu erleben. Als erstes liest sie ihnen eine Geschichte vor. Sie liest aus dem Bilderbuch Ladka Jisne Poocha Kyon vor. Die englische Übersetzung lautet The Boy Who Asked Why (zu deutsch: Der Junge, der fragte, warum). Es ist die Geschichte eines der Führer des modernen Indiens, Bhimrao Ambedkar. Es ist die Geschichte von Kasten-Gräueltaten, die einem Kind widerfahren.

Der Großvater erzählt ausführlich und sagt dem Jungen, dass diese schrecklichen Dinge heute nicht mehr passieren können und dass fürchterlich ist, was geschehen sei. Die Bibliothekarin muss ihm ins Wort fallen und sagt mit sanfter Stimme: „Jetzt hören wir etwas von den Damen.“ Die Frauen wechseln ein paar Worte und auch sie sagen, es sei furchtbar, und dass es manchmal heute noch passiere. Die Bibliothekarin verteilt große Blätter aus Papier, eines an jeden der Teilnehmer im Kreis.

Das Papier ist außergewöhnlich dick. Ich weiß etwas über das Papier, aber ignoriere das jetzt. Im Raum sind auch kleine Babys. Frauen kichern in die Nacken der Babys, in die losen Enden ihrer Saris. Sie klagen, dass sie nicht zeichnen können. Einige aber zeichnen, mit ganz viel Energie. Die Babys sind im Weg. Sie krabbeln über die Zeichnungen. Kurz darauf werden die Babys ihren Müttern liebevoll entwunden oder einfach vom Boden aufgehoben und in den angrenzenden Leseraum gebracht.

Da kümmert sich jemand von der Bibliothek um die Kleinkinder und versorgt sie mit eigenem Papier und Stiften. Eine weitere Helferin der Bibliothek kommt hinzu, dann eine zweite und eine dritte. So werden die vierzehn Kleinen die Zeit über umsorgt und beschäftigt. Die drei Helferinnen sind erstaunlicher ernsthaft und vernünftig bei der Sache, sind sie doch selbst erst zwischen elf und zwölf Jahre alt. Sie wetteifern um eine künftige Mitgliedschaft in der Schülervertretung, dem Forum der Bibliothek für führende Mitglieder.

Zurück im Raum mit dem Kreis der Erwachsenen riskiert ein anderes Mitglied der Schülervertretung über all die übereinandergeschlagene Knie zu stolpern, während es Tee in Pappbechern herumreicht. Blechern klingt die Musik aus dem Telefon der Bibliothekarin. Sie erklingt und verstummt dann wieder. In der zwischenzeitlichen Stille hört man verhaltene Äußerungen von leichter Verzweiflung und sieht Hände, die Buntstifte führen und innehalten, und Zeichenblätter, die von rechts nach links im Kreis herumgereicht werden. Wieder ist Musik zu hören und jetzt klagt niemand mehr darüber, er könne nicht zeichnen. Und während die Musik spielt und eine Schülervertreterin in etwas ungelenken Schritten um den Kreis der Sitzenden herumgeht, um einen lila Stift von einem Ende des Raumes an das andere zu bringen, erlaubt sich die Bibliothekarin einen zufriedenen Gesichtsausdruck.

Dieser Moment dauert nur kurz, denn schon sind da zwei neue Eltern, die gekommen sind und sich nun dem Kreis anschließen wollen. Der Raum aber ist klein. Am Samstagmorgen treffen sich hier regelmäßig eine Handvoll Vier- bis Sechsjähriger zu einer Lese-Lern-Gruppe, in der ihnen Bücher und Geschichten angeboten werden – neben angeleitetem und freiem Spiel, Liedern, Farben und Essensnacks. In dem Raum für die Kleinen ist kein Platz mehr für zwei weitere Eltern. Aber die Bibliothekarin weiß in der Situation zu helfen – und dies mit gespitzten Lippen, gerunzelter Stirn und einem einladenden Lächeln.

Die Blätter gehen noch ein paar Mal von Hand zu Hand, Köpfe beugen sich konzentriert nach unten, Farbstifte werden von der anderen Raumseite erbeten – und schon ist die Zeit um. Die Musik bricht ab. Alle Blätter sind gefüllt, ganz bunt von einem zum anderen Rand. Jedes Blatt ist durch alle Hände im Erwachsenen-Kreis gegangen.

Die Schülervertreterinnen kleben die Blätter zusammen, jeweils vier waagerecht und sechs senkrecht. Es ist ein Patchwork aus Farben, die Bibliothek als ein gemeinsames Patchwork. Irgendwie liegt ein Moment von Überraschung in der Luft und Stolz zeichnet sich auf den Gesichtern ringsherum ab. Es wäre schon etwas gewagt zu fragen und tatsächlich traut sich auch niemand, die Frage zu stellen: Haben wir eine neue Art Liebe erfunden?
Eine neue Art von Liebe Eine neue Art von Liebe | © Mridula Koshy Später am Abend wird der Karton, die Rückseite einfach braun und vorne in Weinrot mit der kursiven Aufschrift „Malblock“, wieder zurück in die Ablage an der Buchausgabe gelegt. Ohne auch nur ein einzelnes Blatt mehr zwischen Vorder- und Rückseite. Ich sehe mich gezwungen, preiszugeben, warum ich den nun leeren Malblock nicht loslassen will. Ich sage: „Das ist guter Karton. Den können wir noch zu etwas brauchen.“

Nicht verraten werde ich, dass der Malblock meiner Mutter gehörte. Ich erzählte auch nicht, dass ich vor neun Monaten ihr Haus leerräumte und das, was ich behielt, in eine Tragetasche steckte: ihren Pullover, drei ihrer Saris, ihren Lippenpflegestift, eine Haarlocke in einem Plastikumschlag, den mir das Beerdigungsinstitut übergeben hatte, ihre Kohlezeichenstifte, ihren Zeichenblock, etwas von dem außergewöhnlich schönen Packpapier, von dem ich dachte, dass es den Kindern in der Bibliothek gefallen würde.

Ich habe noch den Anspitzer, habe aber den Radiergummi verloren, den ich von ihrem Schreibtisch mitgenommen hatte. Die meisten Haarklammern habe ich aufgebraucht und die Karte, an der sie stecken, ist nun beinahe leer. Ich nahm sie mit, als ich darauf ihre Handschrift entdeckte: in der hatte sie meine Telefonnummer an einer Seite der Karte notiert, eine alte Nummer für ein längst verloren gegangenen Telefon, mit dem ich seit Jahren schon keinen Anruf mehr geführt habe, die sie aber aufgeschrieben und so gespeichert hatte.


 

Die hier beschriebene Bücherei ist ein Gemeinschaftsprojekt des TCLP und der Deepalaya NGO und wird vom Ramditti J R Narang Deepalaya Learning Centre aus verwaltet. Zwei Bibliothekarinnen, Dutzende von Freiwilligen und jugendlichen Büchereimitgliedern engagieren sich gemeinsam, so dass die Bibliothek eine kostengünstige Einrichtung für alle Bürger bleibt.

Der winzige Raum von nicht einmal 50 Quadratmetern dient 2300 Mitgliedern und umfasst einen Bestand von über 7000 Büchern. Rund 500 Bücher werden Woche für Woche ausgeliehen, hinzukommen noch Dutzende von Vorleseaktionen im Lauf der Woche. Die meisten Büchereimitglieder stammen aus der Arbeiterschicht und besuchen öffentliche Schulen. Viele der Mitglieder gehören in ihren Familien zu der ersten Generation, die eine Schule besucht.
 
Um zum Lesen zu ermuntern, feiert die Bücherei die von jungen Lesern erreichten Meilensteine. Auf einer Ehrenliste werden Leser aufgeführt, die mehr als zehn Bücher gelesen haben, und an bestimmten Meilensteinen ihrer Lesereise erhalten die Leser und Leserinnen Bücher aus den Büchereibeständen zur Belohnung. Bisher haben 1175 Kinder mindestens zehn und 114 Kinder mehr als jeweils einhundert Bücher gelesen.

Die Bücherei erhebt keine Strafgebühren für verspätete oder verlorengegangene Bücher. Mitglieder, denen Bücher abhandengekommen sind, können ihre Ausleihprivilegien vielmehr durch Mitarbeit in der Bibliothek zurückgewinnen. Dank des Cyber-Projekts der Bücherei gibt es kostenlosen Zugang zum Internet.

Mitglieder nehmen an Workshops zu verschiedenen Themen wie Basteln, Wissenschaft und Gesundheitsfürsorge für Teenager teil. Durch Einladungen an Autoren und Künstler dient die Bücherei als kultureller Versammlungsort, an dem diese ihre Arbeiten in einem integrativen Umfeld vorstellen können, in dem jeder willkommen ist.
 
Die Bücherei macht sich zum Ziel, für ihre Mitglieder da zu sein, Methoden und Programme zu entwickeln, die den Zugang zu Büchern und Wissen fördern, und anderen als ermunternde Aufforderung zu dienen, ein lebendiges öffentliches Büchereisystem Wirklichkeit werden zu lassen.

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