Antifeminismus in Indien
Misogynie in der patriarchalischen Politik Indiens
Indien ist die größte Demokratie der Welt und sieht sich als Vorreiter in Sachen Inklusion, Selbstbestimmung, Pluralismus und Geschlechtergerechtigkeit. Doch während die Nation mit großem Pomp den 75. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit begeht, ringen die fast 50 Prozent ihrer Bevölkerung an Frauen und Mädchen weiter um Gleichberechtigung und politische Teilhabe.
Von Kanika Gupta
Liebe Lydiette, wie in Mexiko sind auch in Indien geschlechtsbezogene Diskriminierung und Gewalt nur zu weit verbreitet. Es ist ein Trend, der in der wachsenden Intoleranz des Landes dem "schönen Geschlecht" gegenüber immer klarer zu Tage tritt.
Ich habe aus Afghanistan ausführlich über den Verlust an Frauenrechten nach dem Abzug der USA und der Machtübernahme durch die Taliban berichtet. Als ich die Verwandlung des Landes von einer Demokratie in einen Gottesstaat miterlebte, wurde mir die Bedeutung des demokratischen Prinzips für die Menschenrechte und die Freiheit bewusst. Es erschüttert mich, dass Frauen in Indien, obwohl sie in der größten Demokratie der Welt leben, in ihrem eigenen Land ganz ähnliche Kämpfe zu führen haben. Misogynie ist tief verwurzelt in der indischen Kultur und prägt auch unsere politische Landschaft. Von sexistischen Kommentaren weiblichen Parlamentsabgeordneten gegenüber bis hin zu ihrem systematischen Ausschluss von der Entscheidungsfindung gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass Indien noch einen weiten Weg vor sich hat, bevor es sich zu Recht als in Geschlechterfragen gleichberechtigte Gesellschaft bezeichnen kann, wie es in der Verfassung verankert ist.
Kampf der Geschlechter - Love Jihad
Indien ist die größte freiheitliche Demokratie der Welt. Doch die Frauen des Landes scheinen mit jedem Tag weiter an politischer Repräsentation einzubüßen. Das tief verwurzelte Patriarchat hat seit jeher das Joch der Familienehre den Frauen aufgebürdet und sie als eifersüchtig gehegten Besitz der Männer betrachtet, den diese um jeden Preis zu beschützen haben – auch und gerade um den Preis der weiblichen Selbstbestimmung. Das Konzept des 'Love Jihad' ist eines der Werkzeuge dazu. Es wurde Mitte der 2000er Jahre entwickelt und hat seither mit dem Aufstieg des Hindu-Fundamentalismus in Indien an populärer, juristischer und politischer Unterstützung und damit an Bedeutung gewonnen. Der Begriff, der von der Hindu-Rechten geprägt wurde, beschreibt eine angebliche Situation, in der muslimische Männer Hindu-Frauen zur Heirat überreden, mit dem alleinigen Ziel, sie zum Islam zu konvertieren. Dr. Vibhuti Patel, Experte für Frauenforschung und Leiter des Bereichs für Wirtschaftswissenschaften der SNDT Women's University in Mumbai, bezeichnet den Kampfbegriff des 'Love Jihad' als barbarischen Angriff auf Rechte und Selbstbestimmung von Frauen.Al Jazeera berichtete im Juli dieses Jahres über den Fall von Amandeep Kaur, einer 24 Jahre alten Sikh-Frau, deren Beziehung zum 22 Jahre alten Usman Qureshi nicht nur zum öffentlichen Spektakel wurde, sondern auch zum Anstoß für die 'Prohibition of Unlawful Conversion of Religion', ein Gesetz, das Rechtsexperten als verfassungswidrig und frauenfeindlich einstufen. Das Anti-Konversionsgesetz ist nur ein weiteres Beispiel für Bestrebungen, Frauen unter patriarchalische Kontrolle zu zwingen und zu infantilisieren und ihnen das Recht abzusprechen, eigenverantwortlich über ihr Leben zu bestimmen.
Geschlechterungleichgewicht – 'Women's Reservation Bill' in der Schwebe
Patriarchalische Tendenzen und ungehemmter Sexismus im politischen System Indiens haben Frauen die Notwendigkeit erkennen lassen, sich aktiv an der Gesetzgebung des Landes zu beteiligen. Doch obwohl es sich um eine repräsentative Demokratie handelt, sind Frauen im Parlament deutlich unterrepräsentiert: eine Studie der 'Inter-Parliamentary Union' sieht Indien in dieser Hinsicht auf Platz 149 von 193.Laut Daten der indischen Wahlkommission ETC stellen Frauen 10,5 Prozent der Parlamentsabgeordneten und nur 9 Prozent der Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen. Der 2021 veröffentlichte Gender-Gap-Index des Weltwirtschaftsforums stuft Indien in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter um 28 Ränge herab - wohl auch aufgrund der mangelnden politischen Teilhabe von Frauen. Frauen werden häufig entmutigt, von vornherein für ungeeignet erklärt oder schlichtweg übergangen, wenn es darum geht, politische Posten zu besetzen. Sie ringen um Ämter in den politischen Parteien, doch bleibt ihnen aufgrund des grassierenden Sexismus jede Chancengleichheit verwehrt. Jüngst forderte ein prominentes männliches Parteimitglied eine weibliche Abgeordneten auf, sich "nach Hause an den Herd" zu begeben, anstatt sich in die Politik einzumischen und bewies so, wie weit verbreitet Geschlechterstereotype und frauenfeindliche Ansichten im indischen Parlament sind.
Um die offenkundige Ungleichheit der Geschlechter zu überwinden, muss die indische Regierung die 'Women's Reservation Bill' verabschieden, die seit 2008 in der Lok Sabha, der indischen Volksversammlung, festhängt. Die Gesetzesvorlage sieht vor, dass ein Drittel aller Sitze in Parlament und Staatsversammlungen für Frauen reserviert bleiben. Obwohl der Gesetzesentwurf seit seiner Erarbeitung 1996 mehrmals dem Parlament vorgelegt wurde, bleibt sein Status weiter unentschieden, aufgrund des fehlenden Konsenses zwischen den politischen Parteien. Dr. Patel erklärt jedoch, dass es kein parlamentarisches Erfordernis für einen solchen Konsens gibt, um ein Gesetz zu verabschieden. Auch besitzt die derzeitige Regierung eine Mehrheit, die einen Konsens kaum als Herausforderung erscheinen lässt. "Was also hält die Regierung davon ab, die Abgeordneten über das Gesetz entscheiden zu lassen?"
Paritätische Mitbestimmung für Männer und Frauen ist Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Demokratie. Allein der fehlende Wille der großen Parteien sorgt dafür, dass das Gesetz trotz seiner mehrmaligen Vorlage nicht verabschiedet wurde.
Keine Redefreiheit – Online-Hetze und Beschimpfungen
Ein freies und offenes Internet hat für immer verändert, wie indische Bürger*innen sich am politischen Diskurs beteiligen, der entscheidend ist für eine moderne Demokratie. Es kommt insbesondere Frauen und marginalisierten Gemeinschaften zugute, indem es ihnen hilft, gesellschaftliche Schranken zu überwinden und politisch aktiv zu werden, wodurch die demokratische Mitbestimmung eine breitere gesellschaftliche Basis erhält. Doch die unregulierte digitale Welt ist in Indien auch zur Brutstätte für Hassrede, Beschimpfungen und Hetze gegen politisch aktive Frauen geworden.Eine Studie von Amnesty International stellte fest, dass bis zu 95 Prozent aller Politikerinnen in Indien jeden Tag mehr als 10.000 beleidigende oder unangemessene Tweets erhalten. Diese Angriffe sind nicht auf Frauen in der Politik begrenzt, sondern treffen auch Journalistinnen, Aktivistinnen, Studentinnen und viele mehr. Auch ich habe solche Online-Attacken miterlebt und war selbst betroffen. Online-Angriffe auf Frauen haben durch die omnipräsenten und untereinander verknüpften Social-Media-Plattformen massive psychologische Auswirkungen auf die Betroffenen: Sie untergraben das Sicherheitsgefühl von Frauen und zwingen sie so in die Selbstzensur. Dr. Patel erklärt, dass Angriffe auf Frauen in digitalen Räumen ein Werkzeug sind, um sie zum Schweigen zu bringen. Journalistinnen, Künstlerinnen, Autorinnen und weibliche Intellektuelle werden sozial isoliert, bloßgestellt und im Extremfall durch Täter-Opfer-Umkehr in den Selbstmord getrieben.
Indien rühmt sich als größte Demokratie der Welt, doch seine Frauen leben wie Bürgerinnen zweiter Klasse, leiden unter frauenfeindlicher Politik, Verleumdung, strengen kulturellen Vorschriften und mangelnder Repräsentation.
Meine Kolleg*innen aus Deutschland, Mexiko, Südkorea und Brasilien berichten von besorgniserregende Entwicklungen in ihren Ländern und ich erlebe Ähnliches zu Hause. Diese Probleme können in Indien nicht durch unorganisierte feministische Bewegungen bewältigt werden, denen es an Zusammenhalt und Intersektionalität mangelt. Die Ernennung von Draupadi Murmu als erster Angehöriger der Adivasi zur Staatspräsidentin mag ein erster Schritt in die richtige Richtung sein, doch er genügt nicht. Bis Frauen von unterster Ebene an angemessene Repräsentation erlangen, werden sadistische Politiker fortfahren, ihre Rechte zu untergraben.
Der einzige Weg für Frauen, sich in einer immer kleiner werdenden Welt Gehör zu verschaffen, besteht darin, sich zusammenzutun und eine Bewegungen zu etablieren, die alle Gesellschaftsschichten umfasst, nicht nur die bürgerlichen. Frauen müssen sich bewusst werden, dass ihre Macht in ihrer Einigkeit liegt. Ein Beispiel dafür sind die globalen Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini in Iran. Nur so kann nachhaltiger sozialer und politischer Wandel gelingen.
Über das Projekt:
In den letzten Jahren hat das Thema Antifeminismus an Aufmerksamkeit gewonnen. Aber was ist Antifeminismus und welche Erscheinungsformen hat er?
Antifeministische Positionen sind vielfältig und reichen von einer Kritik an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Geschlecht bis hin zu einer Ablehnung geschlechtlicher Gleichstellung. Häufig richten sie sich gegen die Stärkung weiblicher Selbstbestimmung und unterstützen die Idee einer binären Geschlechteridentität mit klassischer Rollenverteilung.
Hinter den verschiedenen Erscheinungsformen von Antifeminismus stecken meist sexistische, rassistische, homo- und transphobe und antisemitische Ansichten, die zu einer Bedrohung zentraler Werte einer offenen und liberalen Gesellschaft führen können.
In einem Briefwechsel schildern unsere Autor*innen aus Brasilien, Deutschland, Südkorea, Indien und Mexiko welche antifeministischen Entwicklungen sie in ihren Ländern wahrnehmen. Sie präsentieren damit eine lokale Perspektive auf die Frage: „Inwiefern bedroht Antifeminismus unsere Demokratie?“