Migration – Emigration – Flucht
Das ist alles ein bisschen seltsam

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Georg,

Deine Mail habe ich mit großem Interesse gelesen... Ich freue mich, mehr darüber zu erfahren, wie Deutschland mit der plötzlichen Ankunft von mehr als einer Million Menschen umgeht.

Heute morgen sah ich das mich direkt ansprechendes Bild (als Anhang dieser Mail beigefügt), auf dem man jene Tausende von Männern, Frauen und Kindern sieht, die in ganz geordneter Formation zu Fuß auf ihrem Weg nach Deutschland durch Slovenien unterwegs sind. Ganz offensichtlich stehen wir erst am Anfang, die Ursachen und Auswirkungen dieser großen Migrationsbewegung zu verstehen.
 
Ich bin auch fasziniert von der Wiederauferstehung alter Begriffe und Kategorien wie “Abendland” und “der Westen” – wie von jenem wundervollen Satz, in dem Du sagst, “ich beginne nicht eher, als wenn die gesamte große Weltgeschichte mich überkommt”. Er schickte mich auf einen umherschweifenden Gedankengang, der möglicherweise für unser Verständnis der gegenwärtigen Lage mit Blick auf die “neue Völkerwanderung” [im Original dt.] von Bedeutung sein kann. 
 
Wie Du sagst stammen viele derjenigen, die sich durch Europa bewegen, aus dem Irak, Syrien und aus dem türkisch-syrische Grenzgebiet, also einer Region, die einst als Mesopotamien bekannt war – Heimat der ältesten verbürgten städtischen Zivilisationen. Die ältesten mesopotamischen Ansiedlungen betrieben einen regen Handel mit der Kultur von Harrapa, deren Ruinen man im heutigen Pakistan findet (einem weiteren Land, das Du in Deinem Schreiben erwähnst).  
 
Vor kurzem wies mich ein Freund auf historische Forschung hin, die sich der Existenz einer Enklave der Harrapa-Kultur widmet (d.h. einer Kolonie von Migranten, die aus dem heutigen Pakistan stammten), welche sich in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends vor Christi Geburt in Lagash, einer Siedlung im heutigen Irak befand.   
 
Wie es scheint, trägt das Aufkommen von städtischen Kulturen immer schon den Samen der Migration in sich und die Weltgeschichte kann man als eine Abfolge von Auseinandersetzungen zwischen den entropischen oder auch ungeregelten Sehnsüchten der Menschen und den neg-entropischen oder ordnungssuchenden Handlungsweisen von Staaten verstehen.
 
Vielleicht markiert Europas gegenwärtige “Krise” einen neuen Zeitpunkt in unseren gemeinsamen Geschichten?
Vielleicht resultiert aus diesem Zeitpunkt – da nun die Nationalstaaten in einigen der am längsten bewohnten Regionen der Welt (wie Syrien und dem Irak) kollabieren – eine Neufindung jener Kategorien des Denkens und der Sprache, wie wir sie gewöhnt sind.
 
Zeichen für eine solche Neuordnung sind bereits auszumachen, wenn Journalisten, Politiker und Politikberater sich fragen, wie man diesen Zustrom von Menschen nennen soll. Handelt es sich um Migranten oder Immigranten, um Auswanderer oder Flüchtlinge oder um Asylsuchende?
 
Vielleicht können wir sie im Rahmen unserer Konversation “Musafir” nennen, sie mit einem Wort in Urdu bezeichnen, das mit jeweils leicht abweichender Bedeutung auch im Arabischen, Persischen und Türkischen geläufig ist. Ein Musafir ist eine Reisender aus einem fernen Land, in einigen Sprachen ein Pilger, ein nach Wegen und Wahrheiten Suchender, und im Türkischen benennt das Wort, glaube ich (ich könnte mich da auch täuschen), einen Gast.
Warum aber reist dieser Musafir? An dieser Stelle sei an ein wundervolles Wort im Persischen erinnert – an die Idee des ashina-zada, das das Gefühl bezeichnet, wenn man all seiner Bekannten müde ist und die Gesellschaft von Fremden herbeisehnt.
 
Möglicherweise erweist sich diese noch nicht  festumrissene Kategorie (die des Musafir, der sich durch nicht immer eindeutig zu benennende Gründe auf seinen Weg gemacht hat) als hilfreich, wenn man über die langen Reisen dieser Leute sprechen will – ohne dabei die Leiden abzuwerten, die sich dabei erleiden mussten, und auch ohne mit Vorurteilen über ihre Aufnahme in Europa zu sprechen (wie Du sagtest wurden die Ankömmlinge in einigen Fällen mit Gewalt begrüßt, in anderen mit Solidarität).
 
Deine Mail ließ mich noch in eine andere Richtung denken: nämlich über das Narrativ der Verzweiflung der Musafirs nachsinnen. Natürlich habe ich die Bilder gesehen und die erschütternden Berichte über die vielen ertrunkenen Bootsflüchtlinge gelesen, vom Erstickungstod in zurückgelassenen Transportlastern. Der Schrecken ist real, geht tief und wirkt ganz unmittelbar.
 
 
Die ausführlichen Beschreibungen dieses Schreckens lassen nur eine politische Antwort zu, die Europa in dieser Situation geben könne: die Haltung der Humanität. Diese Art suggestiver Erzählung verdeckt die Tatsache, dass in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg unter Strafe gestellt wurde, in einem fremden Land sein Glück zu suchen. Während das Kapital sich mit immer größerer Geschwindigkeit rund um den Globus bewegt, sind wir an unsere Pässe gefesselt. Es gibt natürlich auch eine entsprechende imperiale Geschichte der Reisepässe – die wir an anderer Stelle einmal behandeln können: Wer kann bestimmen, dass ich Syrer oder Deutscher bin, und welche Folgen kennt ein solcher Akt der Benennung und Bezeichnung?
 
Das gegenwärtige Narrativ der “Rettung der Verzweifelten” erlaubt den europäischen Nationen und Kommentatoren von einer humanitären Rettungsaktion und “Europäischen Werten” zu sprechen. Kein Blick gilt dabei der seltsamen, von Kontrollen beherrschten Landschaft, in der wir leben, und die auf ewig angelegte Kontrolle der Grenzen und Bürger wird als einfach gegeben angenommen.  
 
Welche historische Entwicklung hat dazu geführt, dass es für BMW ganz selbstverständlich und erstrebenswert wurde, eine Autofabrik in Südafrika zu bauen, es hingegen für eine jungen Frau in einem Dorf irgendwo im südlichen Afrika beinahe unmöglich ist, Geld von einem Netzwerk aus Freunden und Familie zusammenzubekommen, mit dem Flug nach Deutschland zu reisen und sich dort bei einer Verwaltungsstelle als arbeitssuchend zu melden, ohne dauernd ihre Festnahme und Abschiebung fürchten zu müssen?
 
Ich denke, der “Marsch der Mustafir” gibt uns Gelegenheit, einen Moment darüber nachzudenken, wie lang der Schatten des 20. Jahrhunderts ist und welche eigenartigen neuen Kategorien es uns präsentiert hat:  Grenzen, Fremde, Schleuser, Lager für solche, die die Grenzen ohne Erlaubnis zu überqueren suchen. Das ist alles ein wenig seltsam, nicht wahr?
 
Nochmals danke für Deine mich zum Nachdenken anregende Mail. Ich freue mich auf dieses Gespräch und Deine Beschreibungen dessen, was derzeit in Deutschland vor sich geht. Denn es sind schließlich genau diese konkreten Detailinformationen, die weitere und tiefer gehende Überlegungen möglich machen.
 
Dein
Aman


New Delhi, den 22. Oktober 2015