Migration – Emigration – Flucht
Ein „metaphysischer Wandel” in Europa?
Lieber Georg,
die Zeit hat sich im Laufe unseres Gesprächs beschleunigt. Der Schrecken der Anschläge von Paris ist noch nicht vergangen, da gibt es bereits eine neue Runde von Anschlägen in Jakarta und Ouagadougou in Burkina Faso. Am Anfang der Woche dann in Istanbul.
Ich habe auch von den Übergriffen auf junge Frauen in Köln in der Silvesternacht gelesen, einem unvermeidlichen Rückschlag, und von Charlie Hebdos kontroverser Zeichnung, die suggerierte, aus dem auf seinem Weg nach Europa ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi wäre, hätte er überlebt, ein Sexualstraftäter geworden.
Die Zeichnung fand die üblichen Reaktionen von den üblichen Verdächtigen, verweist dabei aber auf einen grausigen Zusammenhang zwischen den Ereignissen, die Du in Deiner Mail angesprochen hast: der Anschlag auf das Redaktionsbüro von Charlie Hebdo, die Flüchtlingskrise, die Anschläge von Paris, die Gewalt in Köln und dann die Charlie Hebdo-Zeichnung, in der alles kumuliert. Wie Du in Deiner Mail am Ende folgerst, hängt tatsächlich alles mit allem zusammen.
Danke für den Hinweis auf den Beitrag von Zizek. Als er erschien, hatte ich ihn nicht mitbekommen. Während ich ihn nun las, stieß ich gegen Ende auf eine interessante Passage:
"Als ich unlängst Fragen der Leser der Süddeutschen Zeitung, Deutschlands größter Tageszeitung, zur Flüchtlingskrise beantwortete, bekam die Frage nach der Demokratie das größte Echo, allerdings mit einem rechtspopulistischen Dreh: Welche demokratische Legitimation habe Angela Merkel denn gehabt, als sie in ihrer berühmten Äußerung Hunderttausende nach Deutschland einlud? Welches Recht hatte sie, ohne demokratisches Mandat, einen so drastischen Wandel im deutschen Leben herbeizuführen? An der Stelle ging es mir natürlich nicht darum, die flüchtlingsfeindlichen Populisten zu bestärken, sondern ganz deutlich die Grenzen demokratischer Legitimation zu benennen. Das Gleiche gilt für diejenigen, die sich für die grundsätzliche Öffnung der Grenzen einsetzen: Sind sie sich bewusst, dass ihre Forderungen, da unsere Demokratien Nationalstaaten sind, auf deren Abschaffung hinauslaufen – und tatsächlich einen gewaltigen Wandel für den Status-Quo des jeweiligen Staates bedeuten – und zwar ohne jegliche demokratische Rücksprache mit der Bevölkerung?”
Nach Ansicht von Zizek handelte Merkel richtig, als sie die Bevölkerung dazu nicht befragte. Er schreibt:
“Emanzipatorische Politik darf nicht von einem Apriori formal-demokratischer Verfahren der Legitim-Machung abhängen. Nein, das Volk weiß oftmals NICHT, was es will, oder will nicht, was es weiß, oder will einfach das Falsche. Es gibt also keine Patentlösung.”
Mich würde interessieren, wie Du die Sache siehst. Was hälst Du von dem Ausschnitt, den ich hier zitiere?
Auch ich glaube, eine Volksbefragung oder Volksabstimmung hätte verhindert, dass die Flüchtlinge willkommen geheißen wurden – aber instinktiv stört mich seine abgegriffene Formulierung, “das Volk” wisse nicht, was es wolle, weshalb wir eine prinzipientreue Führung bräuchten, die uns die Richtung weist.
In vielen Demokratien werden wegweisende und unwiderrufliche Entscheidungen mit Hilfe eines Referendums getroffen. Es ist aber bemerkenswert, dass es fast nie ein solches Referendum gibt, bevor der Krieg erklärt wird – eine Entscheidung, die wie keine andere ein episches Ausmaß besitzt und nicht rückgängig zu machen ist.
Die Frage, die sich mir demnach stellt, lautet wie folgt: Wird die Ankunft von vier Millionen Flüchtlingen auf einem Kontinent mit 750 Millionen Bewohnern zu dem führen, was Du einen “metaphysischen Wandel” nennst – etwas, was Politiker dazu zwingen müsste, das jeweilige Volk nach seiner Meinung zu fragen?
Unterschätze ich, mit meinem sicheren Abstand hier aus der Ferne, die längerfristigen Folgen der europäischen Krise? Als optimistischer Bewohner einer überfüllten Stadt – mit 24 Millionen längst noch nicht am Ende – tendiere ich zu der Ansicht, dass wir uns derzeit in einer zeitweiligen Schock-Starre ganz zu Beginn dieses Prozesses befinden, die sich dann irgendwann in eine Form des Nebeneinanders zwischen den bereits in Deutschland Lebenden und den Neuankömmlingen verwandeln wird.
Derzeit lese ich ein faszinierendes jüngst erschienenes Buch von Bhrigupati Singh, einem Ethnologen an der Brown University: “Poverty and the Quest for Life: Spiritual and Material Striving in Rural India“.
In seinem Buch beschreibt Bhrigu seine Denkfigur einer "agonistischen Intimität” – nach dem griechischen “Agon” oder “Wettbewerb” –, um nachvollziehbar zu machen, wie “potenziell einander feindlich gesinnte Nachbarschaftsgruppen” doch zusammen kommen und miteinander einen lebendigen wie allerdings umkämpften Frieden einzurichten verstehen, indem sie einander irgendwie in ihrer jeweiligen moralischen und geistlichen Welt einen Platz zubilligen.
In solch einer Art “agonistischen Intimität” zu leben, bedeutet zugleich eine konflikthafte Auseinandersetzung wie ein Miteinander-Sein. Wie Bhrigu nachweist, bildete eben eine solche heikle Balance die Grundlage des Zusammenlebens vieler menschlicher Gesellschaften zu den verschiedensten Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten.
Um diese Beweisführung auf die derzeitig verfahrene Lage in Deutschland zu übertragen: Es ist durchaus möglich, dass sich die syrischen “Musafir” nicht sogleich und nahtlos “integrieren” lassen. Aber wahrscheinlicher ist es, dass sich im Laufe der Zeit in den Gemeinden unerwartete und möglicherweise zarte Verbindungen entwickeln werden.
Einige der Verbindungen werden in erster Linie symbolisch, wirkungsmächtig und dabei unbeständig sein – in einer Generation wird das Kind eines syrischen Flüchtlings vielleicht ein wichtiges Tor für die deutsche Nationalmannschaft schießen oder einen entscheidenden Elfmeter vergeben (ich denke hier wahrscheinlich an Mesut Özil). Andere Verbindungen werden weniger augenfällig, dafür aber dauerhafter und intimer sein – wie die Anwesenheit von in Syrien geborenen Fabrikarbeitern, Krankenschwestern oder Ärzten in Krankenhäusern. Demagogen vom Schlage eines Trump, einer Marie Le Pen oder eines Nick Griffin werden auftreten und diese Entwicklung mit allen Mitteln zu verhindern suchen.
Aber ist es undenkbar, dass sich diese dauerhaften Verbindungen, Vorurteile und Begegnungen in zwei Jahrzehnten in eine Mélange aus Mythos, Erzählung und Ritual verwandelt haben werden, mit der die Ankunft der Musafir und einer (um nochmals mit Bhrigu zu sprechen) “Rekultivation” der Vorstellung einer deutschen Identität und Volkes erinnert werden?
Treffend hast Du als Problem an Habermas' Vorstellung einer ‚Öffentlichkeit’ die Annahme beschrieben, nach der jeder rational handelt und dies zudem öffentlich tut, so dass es auch alle mitbekommen. Das ist nachweislich nicht der Fall.
Ein Gutteil der Politik – und der Großteil des Lebens – wird glücklicherweise außerhalb dieser Öffentlichkeit verbracht. In Indien erkennen wir das so langsam, wo wöchentlich ein hochrangiger Regierungsbeamter oder Minister irgendeine unglaubhafte, gewalttätige oder schlichtweg bigotte Meinung äußert und dabei sehr genau weiß, dass die Presse im ganzen Land seine (denn es sind fast immer Männer) Aussagen verstärken wird.
Ich denke schon, dass Worte Konsequenzen haben, gerade wenn sie scheinbar Mächtige aussprechen. In der Gesellschaft aber gibt es eine fluide Widerstandskraft – sie bildet weiter einen Zusammenhang, auch wenn sie sich verwandelt. Es ist eben diese paradoxe Widerständigkeit, die mich weiterhin hoffnungsvoll stimmt.
Wie stets der Deine,
Aman
New Delhi, den 19.1.2016