Migration – Emigration – Flucht
Der einsamste Mann von Istanbul
Lieber Georg,
an einem Abend im Mai stieß ich zufällig auf den einsamsten Mann von Istanbul. Ich traf Wasim Shamma auf einer Parkbank in Fatih, einer Gegend, in der viele syrische Flüchtlinge untergekommen sind.
Fatih besteht aus einer Reihe von abschüssigen Straßen, die sich um einen zentralen Platz mit kleinen Parkanlagen herum gruppieren, der von Betonschwellen, Kinderschaukeln und Bänken zum Sitzen und Verweilen eingerahmt ist, von denen aus man die belebten Läden beobachten kann. In den letzten paar Jahren hat sich der Charakter des Marktplatzes seiner flüchtigen, wandernden Kundschaft angepasst – mit Internet-Cafés für Skype-Gespräche mit der über die ganze Welt verstreuten Verwandtschaft, Telefonzellen für Anrufe nach Europa und Syrien, Wechselstuben, Überweisungsdienstleistern, syrischen Restaurants und Cafés sowie Kräuterläden, in denen man Ingwerpulver, Kaffeemischungen mit Zimt und zuckersüße Leckereien aus Mandeln und Pistazien bekommen kann.
Shamma saß ganz für sich allein dort, während das Laternenlicht von seinem kahlen Kopf zurückgeworfen wurde. Er trug ein weißes Hemd, einen enggeknoteten Schlips und einen dunklen Anzug mit speckigen Stellen an den Ellenbogen.
„Kann ich Ihnen eine Zigarette anbieten,” fragte er und griff dabei in eine schwarze Plastiktüte, in der sich loser Tabak, Zigarettenhülsen und eine Maschine zum Zigarettenstopfen aus Plastik befanden.
„Stammen Sie aus Syrien?”
„Meine Mutter ist syrisch, mein Vater war Türke.
Ich wurde in Jiddah geboren, wissen Sie, in Saudi-Arabien. Dort war mein Vater Rechtsanwalt. Im Jahr 2000 zogen wir nach Damaskus, wo mein Vater an einem Herzanfall starb.”
Damals war Shamma vierundzwanzig. Er schloss das College ab, eröffnete einen Laden. „Wir verkauften Brot und Speiseeis. Wir waren beliebt und erfolgreich. Nur mit Brot und Eis.” Er heiratete eine Syrerin, gemeinsam bekamen sie zwei Kinder. „Zwei Töchter.” Seine jüngere Schwester heiratete jemanden aus Usbekistan und zog nach London. Seine Schwester hatte zwei Kinder, „zwei Töchter.”
Eines Tages dann kamen die Panzer, Demonstranten, Schusswechsel, Raketen. „Direkt vor meinem Haus in Damaskus.”
So reiste er 2012, im Alter von sechsunddreißig, mit seiner Familie zum ersten Mal in die Türkei – er, Shamma, Besitzer eines türkischen Passes, Sohn eines türkischen Vaters, der aber nicht einmal einfaches Türkisch sprach.
Ohne Sprachkenntnisse war es ihm unmöglich, Arbeit zu finden. „Ich wurde (wie alle Männer) zum türkischen Militär eingezogen – das war gut. Meine Frau aber hasste das Leben in Istanbul. Jeden Tag wiederholte sie: ‚Ich gehe zurück nach Damaskus. Ich gehe zurück nach Damaskus.’”
Und eines Tages tat sie genau das, und nahm auch die Kinder mit. In Damaskus heiratete seine Frau dann jemand anderen. Seine Mutter verkaufte das Elternhaus und zog nach An.
„Ich leide zu sehr darunter. Ich kann nichts machen.”
Beim Militär wurde er medizinisch untersucht. „Der Arzt sagt, meine Psychologie ist nicht gut. Wirklich nicht gut. Meine Vorgesetzten versuchen zu helfen. Aber ich leide zu sehr.”
„Jetzt stecke ich hier in der Türkei. Ich kenne niemanden – keinen einzigen Türken. Aber ich bin kein Syrer, so kann ich nicht Asyl beantragen.”
„Jedes Mal, wenn ich den Antrag stelle, hör ich: Tut uns leid, Sie sind Türke. In der Türkei gibt es keinen Krieg. Sie sind in der Türkei sicher.”
„Aber ich stamme aus Syrien.”
„Sie sind aber Türke. In der Türkei gibt es keinen Krieg. Sie sind in der Türkei sicher.”
„Aber meine Mutter ist Syrerin. Ich habe nie in der Türkei gelebt, ich spreche die Sprache nicht, ich habe keine Arbeit.”
„Sie sind aber Türke. Sie haben einen türkischen Pass. In der Türkei gibt es keinen Krieg. Sie sind in der Türkei sicher.”
Also arbeitet Shamma 12-Stunden-Schichten (von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends – „Es gibt keine Gerechtigkeit!”) als Oberkellner in einem syrischen Restaurant, bedient Landsleute, die der Krieg hat stranden lassen. Er verdient 1700 Lira im Monat, von denen er 700 für ein zu Fuß in 20 Minuten entferntes Einzelzimmer ausgibt.
„Ich wünschte, ich hätte einen syrischen Pass. Meine Nationalität hilft mit überhaupt nichts.”
In Deiner letzten Email stelltest Du die Frage:
Was aber würde das bedeuten, wenn die Gegenwart sich selbst historisch wird?
Ich las Deine Mail nochmals, als ich ins Flugzeug nach Istanbul stieg – und Deine Frage blieb mir im Kopf.
Während meines jüngsten Aufenthalts in Istanbul und Ostdeutschland versuchte ich in den Gesprächen mit den Menschen Antworten auf Deine Frage zu finden.
In der nächsten Folge unseres Mail-Austausches will ich Dir einige Vignetten dieser historischen Gegenwart zu präsentieren. Ich will sie nicht als Antworten auf Deine Frage verstanden wissen, sondern vielleicht eher als logische Folgesätze, die auf Deine Erkundungen reagieren.
Möglicherweise könnte eine Liste von Fragen, auf die wir einfach mit weiteren Fragen antworten, die Narrative zu destabilisieren helfen, die um uns herumwirbeln, bis zu jenem Punkt, an dem die Antworten selbst gar nicht mehr ausgesprochen werden müssen.
In Person von Wasim Shamma bin ich auf jemanden getroffen, der ganz buchstäblich im eigenen Land gefangen ist, das – irgendwie – nie sein Land gewesen ist.
Das ließ mich an „Toba Tek Singh“ denken, eine Kurzgeschichte von Sadat Hassan Manto über die Teilung von Indien und Pakistan – eine schnell zu lesende Übersetzung in Englische findest Du hier.
Die Geschichte beginnt mit einer Beschreibung, die ganz in Mantos unnachahmlich ironischen Tonfall gehalten ist:
Zwei oder drei Jahre nach der Teilung von 1947 kamen Indien und Pakistan auf die Idee, ihre Wahnsinnigen auszutauschen – wie zuvor ihre Kriminellen. Die muslimischen Wahnsinnigen in Indien sollten nach Pakistan verbracht werden und die hinduistischen und sikh Wahnsinnigen in den pakistanischen Irrenanstalten sollten an Indien übergeben werden.
Anschließend wird die Geschichte von Bishan Singh erzählt, eines der Wahnsinnigen aus dem Dorf „Toba Tek Singh”, der verzweifelt herauszufinden versucht, ob sich sein Dorf nun in Indien oder in Pakistan befindet.
Gegen Ende unseres Gesprächs gingen wir in Shammas syrisches Lieblingscafé in Fatih, um zu Abend zu essen. Er holte sein Telefon heraus, um mir seine Nichten in England zu zeigen. Er fand ein Foto mit zwei grinsenden Mädchen, die neben der Herzkönigin auf einem Rummelplatz irgendwo auf dem englischen Land zu sehen waren.
Das Wlan im Café funktionierte nicht, also koppelte er sein Telefon an meines an und sprach kurz mit seiner Mutter. Anschließend – während Nachrichten und Bilder von Freunden und Verwandten aus aller Welt auf sein mit dem meinen verbundenes Telefon hochgeladen wurden – saßen wir beim Abendessen und verzehrten eine unendliche Folge von Fleischgerichten und Süßigkeiten zusammen mit Minze- und Limettengetränken. Die Kellnerin lächelte uns an – auch sie eine Syrerin –, und ein Mann kam am Tisch vorbei und grüßte Shamma – „Er ist wie ich – türkischer Pass, aber in Syrien aufgewachsen.” Istanbuls einsamster Mann hat sich in der Türkei eine Welt eingerichtet.
Als wir aufbrechen wollten, drängte er mich zu Seite und bestand darauf, die Rechnung zu zahlen.
„Beim nächsten Mal, wenn wir uns wiedersehen, sind Sie dran,” sagte er mit einem Lächeln.
In Deine Mail schreibt Du:
Die Zeit ist so kurz und so knapp, in der wir leben, sie wird eng, besonders für die, die hineindrängen. Denn die Zeit ist nicht für alle da, sie ist nicht für alle gleich. Viele leben länger, weil sie können, viele leben kurz, weil sie nicht können.
Das ist durchaus wahr, aber wir können uns auch „für einander Zeit nehmen” – den Augenblick erfassen, in dem die Leben in unterschiedlichen Zeitskalen miteinander koexistieren und untereinander in Austausch treten. Wir können uns für einander Zeit nehmen, einen Kaffee in Fatih trinken und dabei über Damaskus und Delhi sprechen.
Wir können uns Zeit geben, sie uns für ein nächstes Mal nehmen – um dann sich dann für das Geschenk eines üppigen Mahls in wenig freigiebigen Zeiten zu revanchieren.
Denn, und das lernte ich durch die Begegnung mit Shamma, wir dürfen den Krieg nicht unsere Menschlichkeit rauben lassen, und wir dürfen in unseren Kämpfen nicht unsere Großzügigkeit verlieren.
Ich bin schon gespannt auf Deinen Bericht über die Zeit in Idomeni.
Wie stets herzlich Dein
a.
New Delhi, den 4. Juni 2016