Migration – Emigration – Flucht
So viele verpasste Chancen
Lieber Aman,
das ist eine phantastische Idee, jeder sollte alle paar Jahre umziehen, in ein anderes Land, eine andere Kultur, das wäre womöglich die Lösung für vieles: Franzosen in Bangalore, Inder in Namibia, Italiener in Memphis.
Ich merke hier, wie sich mein Gehirn verändert, wie ich mich verändere, wie sich mein Blick verändert, jeden Tag, jedes Mal die neue, alte Frage: Wer bin ich, hier, an diesem Ort, in diesem Moment, und überhaupt?
Das ist es, was die Fremde macht, mit mir jedenfalls, an diesem sehr sehr privilegierten Ort, Cambridge, Harvard, mit all den Edel-Ausländern und -Inländern, die sich zu einer kosmopolitischen Supermasse vereinen.
Es ist, als ob man der Welt beim Denken zusehen kann. Eindrucksvoll. Aber natürlich macht es einen auch skeptisch, weil die Art, wie hier gedacht wird, gerade sehr offensichtlich an bestimmte Grenzen stößt.
Grenzen der Vernunft etwa, wenn es um Donald Trump geht, im „post-truth age“, wie das jetzt immer heißt: Man kann hier so liberal und aufgeklärt und weltzugewandt denken, wie man will, weite Teil der Bevölkerung wird man damit auf absehbare Zeit nicht erreichen.
Im Gegenteil. Es ist die Angst vor der Globalisierung, die die Wähler zu Trump treibt, sie sind die Verlierer dieser: ja, was ist es, Realität oder Ideologie?
Das verbindet sie mit so vielen anderen Verlierern, und trennt sie doch wieder: Sie haben etwas zu verlieren, daher ihre Aggression. Die, die nichts zu verlieren haben, sind ihre Gegner, mehr als die, die alles haben.
Das ist die seltsame, die schreckliche Logik unserer Tage. Es ist der Anfang für Kriege und für Gewalt. Die irrationale Furcht vor dem Anderen und ihre realen Gründe und Konsequenzen.
In Deutschland, so scheint es mir aus der Ferne, sind sie immer noch dabei, herauszufinden, was damals passiert ist, vor etwas mehr als einem Jahr – und es ist traurig zu sehen, wie sehr weite Teile der Mainstream-Medien und der Politik die Rhetorik von Rechts übernommen haben.
Dabei funktioniert doch alles mehr oder weniger gut. Es sind, das wurde neulich gemeldet, genauso viele Flüchtende gekommen, wie prognostiziert, 890000 im Jahr 2015, weniger als die mehr als eine Million, die als Angstzahl vermeldet wurden.
Und wegen der harten Politik seither sind es in diesem Jahr deutlich weniger als von der rechtskonservativen CSU gefordert – was vollkommen egal zu sein scheint, denn Politik und manche Medien machen einfach weiter in ihrer Gaga-Jagd auf Angela Merkel.
Es scheint fast, als wollten sie sich dafür rächen, dass sie der Frau so lange vertraut haben – sie wollen sie fallen sehen, egal, ob die Gründe stimmen, die sie vorbringen, egal, ob danach das Chaos käme. Es ist nicht schön anzusehen, eine Meute im Blutrausch.
Die Aggression und Irrationalität, die von den rechten Rändern ausging, ist also in die Mitte vorgedrungen, die Flüchtenden sind das Medium, durch das der Hass transportiert wird: Es sind archaische Schauspiele, und man fragt sich, ob das jemals aufhören wird.
Das 21. Jahrhundert wird den Riss noch verstärken, die, die haben und wissen, werden mehr haben und mehr wissen, die, die nichts haben, werden in Verzweiflung alles, alles tun, um eine Chance zu bekommen.
Auch das ist etwas, das man hier an diesem Ort spürt: Viele denken hier darüber nach, wie es anders gehen könnte, aber die Macht des Realen scheint so viel stärker zu sein. Andererseits, auch das lernt man hier: Optimismus ist möglich.
Das Traurige an der Diskussion des vergangenen Jahres war ja, dass so viele Chancen verpasst wurden, konstruktiv, offen, radikal oder aberwitzig über das nachzudenken, was gerade passiert: Erst verstellte die Not der Menschen, die kamen, dann der Hass der Menschen, die schon da waren.
Dabei wäre das nicht nur möglich, es wäre nötig – so wie ihr es gemacht habt, bei dem Symposium: Das weltweite Schengen, ich weiß nicht, Schengen hat gerade so einen hohlen Klang für mich, weil es recht bald mit dem Dublin-Mechanismus verbunden wurde, der de facto eine Zwei-Klassen-Freizügigkeit im Schengenraum festgelegt hat.
Überhaupt dieses Dublin-Abkommen, das bestimmt, dass jeder Asylsuchende nur dort seinen Antrag stellen kann, wo er oder sie zuerst angekommen ist – meistens also, fast immer, in einem der Mittelmeerstaaten.
Es ist so offensichtlich falsch, dieses Abkommen, es begünstigt so offensichtlich Länder wie Deutschland, Österreich, Ungarn, all die Länder, die keinen Mittelmeerzugang haben, dass man sich fragt, wie die EU diesen missratenen Mechanismus akzeptieren konnte.
Aber dann ist die EU wiederum nicht nur Teil des Problems, sondern ein sehr wesentlicher Grund dafür, dass die Krise so kam, wie sie kam: Es ist ein Versagen der Politik wie der Werte, das wir bestaunen konnten, das Ende Europas wird nicht von außen kommen, sondern von innen.
Auch das ist natürlich ein Blick auf diesen alten Kontinent, der durch die Distanz vielleicht klarer – oder grausamer – wird: Dir wird es ähnlich gehen, wenn du von Indien aus auf Europa blickst, nehme ich an?
Was siehst du?
Das würde ich gerne wissen. Und wir sollten wieder öfter schreiben, regelmäßiger, damit wir schneller sind im Denken.
Es passiert so viel.
Herzlich, wie immer, ich freue mich auf deine Antwort.
Georg
Cambridge, den 17. Oktober 2016