Teil 2
Dieses Lager, jenes Lager
„Ich weiß alles über Erdnüsse, Betelnüsse und Kokosnüsse. Die haben wir früher bei uns zuhause angebaut. Aber Walnüsse habe ich zum ersten Mal in Indien gesehen”, sagt Mariam Bibi, eine 16-jährige Arbeiterin.
Sie denkt kurz nach und fährt dann fort: „Bei uns in Burma gibt es sie gar nicht. Und die Kartoffeln, Wassermelonen, Mangos und Guaven dort sind anders als die indischen – sie sind kleiner, süßer und viel besser.”
Ashiya, ihre 45-jährige Kollegin – sie trägt einen gelben Thami, den traditionellen burmesischen Rock, und einen blauen Schal – unterbricht sie: „Wie lange willst du noch Kartoffeln und Tomaten aus Burma und Indien vergleichen? Gewöhn’ dich endlich dran. So bald gehen wir nicht wieder zurück.”
Mariam lächelt. Sie sitzt auf dem Boden und macht weiter, knackt Walnüsse mit einem flachen Stein und hebelt die Kerne mit einem Schraubenzieher heraus.
Sie arbeitet in einer Walnuss-„Fabrik” im Kariyali-Pond-Lager in Jammu im Norden Indiens. 2013 kam sie mit ihrer Mutter, drei jüngeren Schwestern und zwei älteren Brüdern aus Maungdaw in Myanmar hierher.
Die „Fabrik” gehört Veeru, einem Einheimischen. Der 50-Jährige ist groß und kräftig gebaut, Haare und Bart sind mit Henna gefärbt. Veeru hat im Lager mehrere solcher „Fabriken” errichtet: große Blechschuppen, die zur Hälfte mit Walnüssen in Jutesäcken vollstehen. In der anderen Hälfte sitzen Frauen und Kinder in einer Reihe auf dem nackten Boden und knacken Nüsse.
Pro Kilo bekommen sie 10 Rupien (0,13 Euro). Mariam ist die schnellste von allen, sie verdient 80 Rupien in zwölf Stunden. Veeru gehört auch das Land, auf dem dieses Rohingya-Ghetto steht – 800 Familien, 3.000 Menschen wohnen hier. Die Miete für eine Baracke beträgt 1.500 Rupien (19 Euro) pro Monat, dazu kommen 1.300 Rupien für Strom und Wasser. Mariam lebt auch hier und verdient im Monat rund 2.000 Rupien.
Die Frauen arbeiten von 6 bis 18 Uhr. Junge Mädchen wie Mariam bleiben manchmal ein oder zwei Stunden länger, wenn sie jüngere Schwestern haben, die ihnen die Hausarbeit und das Kochen abnehmen. Aus jedem Haushalt der Siedlung hat mindestens eine Frau hier zu arbeiten. Drei Frauen, die sich einmal wegen Rückenschmerzen bei Veeru entschuldigten, und sieben Frauen, die außerhalb des Lagers Arbeit annahmen, weil sie dort 16 Rupien pro Kilo erhielten, mussten das Lager sofort verlassen. „Ihm gehört das Land. Er entscheidet, wer bleibt”, sagt Mariam.
Mariams Vater, Junaid, war Sänger und spielte die Tabla, ein klassisches indisches Musikinstrument. „Hast du schon mal eine Tabla gesehen? Das sind zwei Trommeln mit Ledermembranen – etwa so”, erklärt Ayesha, Mariams zehnjährige Schwester, und spannt eine Plastiktüte über den alten Farbeimer, in dem Mariam die Walnusskerne sammelt. Der Eimer kippt um, die Kerne verteilen sich auf dem Boden.
Mariam schimpft: „Deswegen sage ich dir, du sollst keine Schule schwänzen. Geh und mach deine Hausaufgaben.” Für kleine Kinder wie Ayesha gibt es in der Nähe einige Schulen, die von NGOs geleitet werden. Mariam konnte keinen Abschluss machen, weil die burmesische Regierung Rohingya-Kindern im Rakhaing-Staat eine höhere Schulbildung verwehrte.
Ayesha antwortet: „Aber es ist doch so kalt. In der Schule bewege ich meine Hände nicht.”
Mariam erklärt: „In Burma haben wir drei Jahreszeiten – Winter, Sommer und Monsun. Nicht wie in Indien mit seinen extremen Wintern und Sommern.“
„Schon wieder!“, ruft Ashiya aus. „Warum redest du immerzu von Dingen, die keine Rolle mehr spielen, die es in unserem Leben nicht mehr gibt?”
Eines Tages, im Januar 2012 in Maungdaw – es war so kalt wie heute in Jammu –, war Junaid unterwegs, um bei einer Hochzeit zu spielen, und wurde vom Militär geschnappt. Sie brachten ihn in die Berge, er musste Waffen und Munition schleppen. Zwangsarbeit beim Militär ist in Myanmar gang und gäbe. Laut Aussage der Internationalen Arbeitsorganisation aus dem Jahr 2005 habe „das Militärregime (Myanmars ‘Regierung’) keine angemessenen Maßnahmen ergriffen, um die Zwangsarbeit zu reduzieren.”
Mariams Familie suchte überall nach dem Vater, „aber wen die Nepalis einmal als Träger entführt haben, der kehrt nicht mehr zurück”, sagt sie mit ernstem Gesicht, während Ayesha aufmerksam zuhört. „Nepali” ist – in Anspielung auf ihr Aussehen – unter den Rohingya Slang für Burmese.
Im selben Jahr kam es im Rakhaing-Staat zu mehreren Konflikten zwischen den Rohingya und Arakanesen. Angeheizt wurden die Unruhen durch Gerüchte, dass die buddhistischen Arakanesen bald zu einer Minderheit im Staat würden – als Begründung diente das Klischee, dass Muslime mehr Kinder zeugten. Am 28. Mai 2012 verbreitete sich die Nachricht, im Rakhaing-Staat hätten drei Rohingya eine buddhistische Frau vergewaltigt. Als Reaktion darauf wurden noch in der gleichen Nacht in 14 Rohingya-Dörfern Häuser niedergebrannt, in den folgenden Monaten wurden fast 2.500 Häuser zerstört und mehr als 30.000 Menschen vertrieben. Die obdachlosen Rohingya wurden in 37 nationalen Lagern für Binnenvertriebene untergebracht, darunter auch Mariam und ihre Familie, die in einem Lager in Maungdaw landeten.
Die Lager sollten den Rohingya Schutz bieten, doch die Armee verwandelte sie in Gefängnisse. „Es gab kein Trinkwasser, kein Essen, keinen Arzt”, sagt Humaira, Ashiyas zwölfjährige Tochter, die ihr an diesem Tag bei der Arbeit hilft. Alles, was zu ihrem Lebensunterhalt beigetragen hätte, war den Lagerbewohnern verboten. „Wir durften weder etwas anbauen, noch angeln oder Brennholz zum Kochen sammeln. Wir haben gehungert.”
Noch heute leben schätzungsweise rund 140.000 Rohingya in diesen Lagern. Laut einem Bericht des Welternährungsprogramms ist die Lage im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung in Maungdaw besonders kritisch. Einer Studie zufolge haben fast zwei Drittel der dortigen Haushalte keine Möglichkeiten, sich ausreichend zu ernähren.
Eines Tages im Oktober 2012 beschloss Harun, Ashiyas Mann, die Flucht aus dem Lager zu wagen, um etwas Geld zu verdienen. Er war Fischer und konnte seine Familie einfach nicht mehr hungern sehen. „Am nächsten Tag wurde seine Leiche aus dem Lager geworfen. Seine Hände und Füße waren mit Plastikstreifen gefesselt, man hatte ihm in die Stirn geschossen”, sagt Ashiya mit starrer Miene.
Eine halbe Minute lang ist es ganz still, dann sagt Mariam: „Das war eine Drohung an uns. Auch die unzähligen Restriktionen sind systematisch geplant – sie wollen, dass wir das Land verlassen.”
Laut Human Rights Watch „leben viele muslimische Binnenvertriebene in überfüllten Zeltlagern, andere in Übergangseinrichtungen, und nicht wenige sind – mit Kenntnis der burmesischen Behörden – obdachlos und haben keinerlei Zugang zur Grundversorgung. Die verhältnismäßig wenigen Stätten hingegen, in denen die vertriebenen Arakanesen wohnen, werden durch lokale und nationale Regierungsprogramme recht gut versorgt, nicht zuletzt durch die Unterstützung von Fernseh- und Radiosendern, die in landesweiten Hilfsaktionen zu privaten Spenden für vertriebene Arakanesen aufrufen.”
Ashiya sagt: „Die Buddhisten sind frei, Muslime jedoch nicht.” Nach Haruns Tod sammelten Mariam und Ashiya mit elf anderen Familien Geld, um einen Schlepper zu bezahlen, der sie sicher nach Jammu bringen würde. Zwei Monate waren sie auf dem Weg über Bangladesch unterwegs, im Februar 2013 kamen sie hier an.
Mariam unterbricht sie: „In nur zwei Wochen habe ich Hindi gelernt. Es ist unserer Sprache recht ähnlich, und es gibt auch verschiedene Dialekte. Genau wie in Indien.”
„Wir konnten die Sprache nicht und wir sind ganz anders als die Muslime hier. Aber wir haben es geschafft, am Leben zu bleiben. Das ist unser größter Erfolg in den letzten fünf Jahren“, sagt Ashiya.
Doch die Aussicht auf ein Leben in Sicherheit ist schon wieder in Frage gestellt, auch hier breiten sich nach und nach islamophobe Tendenzen aus – und die religiöse Polarisierung macht sich auch in der Politik bemerkbar. So hat Rakesh Gupta, der Präsident der Industrie- und Handelskammer in Jammu der Regierung des Bundesstaates bereits gedroht, er werde, sollten die 7.000 hier lebenden Rohingya nicht deportiert werden, eine „Bewegung starten, um diese Kriminellen zu identifizieren und zu töten”. Laut Gupta ist eine solche Forderung Teil der „sozialen Verantwortung der Kammer”.
Plötzlich kommt Veeru herein und brüllt: „Seid ihr Frauen zum Arbeiten da oder zum Quatschen?" Die Frauen und Mädchen nicken und machen sich wieder an die Arbeit. Nachdem Veeru gegangen ist, frage ich: „In welchem Lager ist es denn besser? Er ist gewalttätig und zahlt weniger.”
„Die Inder schimpfen zwar viel, aber anders als in Myanmar hat uns hier noch niemand körperlich angegriffen”, sagt Mariam lächelnd.
Ashiya sagt: „Kein schlechtes Wort über die Inder. Man sollte dich zurück nach Burma schicken.”
Mariam erwidert: „Du willst mir doch nicht weismachen, dass du dich nicht nach Curry mit Bambus und Garnelen sehnst, das du seit sechs Jahren nicht mehr gegessen hast. Ich weiß doch, dass du nach Hause willst. Na, bitte. Dir läuft ja schon das Wasser im Munde zusammen.“
Ashiya blickt mit einem strahlenden Lächeln auf, und alle müssen laut lachen.
Kommentare
Kommentieren