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Teil 1
Schwarze Magie

Rohingya-Frau
Rohingya Frauen in Flüchtlingslagern teilen Geschichten über Verlust und Hoffnung. | © UN Women/Allison Joyce

„Mumtaz Begum beherrscht schwarze Magie. Wie sonst könnte ein Mädchen den Tod ihrer Familie und einen weggelaufenen Ehemann verkraften, und sich auch noch die Nägel rot lackieren?“, mahnt Mehrunissa, eine 60-jährige Frau im Kariyani-Pond-Flüchtlingslager in Jammu.

Mumtaz Begum ist 22. Der Eingang ihrer Baracke ist mit Pailletten bestickt, die in der Wintersonne funkeln. Nach einer Gewaltorgie des buddhistischen Mobs floh sie 2013 mit ihren beiden Nachbarn aus Maungdaw in Myanmar. „Der Anblick der eigenen zerhackten Eltern und jüngeren Geschwister geht einem nicht mehr aus dem Kopf“, sagt sie.

Nach dem Verlust ihrer Familie waren die Nachbarn, Shahida und ihr Mann Younis, beide um die 60, ihre einzigen Vertrauten. Sie flüchteten erst nach Bangladesch und über Kolkata schließlich weiter nach Jammu in Indien. „Sie waren sehr freundlich und beschützten mich. Wen kümmert sonst schon ein Waisenkind, ein unverheiratetes Mädchen?“

In Jammu lernte sie Mohammed Aarif kennen, 20 Jahre älter war er als sie. Auch Aarif hatte wohl seine Familie verloren, doch anders als Mumtaz war er sich dessen nicht wirklich sicher. Er lebte als Bauer in Buthidaung im Rakhaing-Staat (ehemals Arakan) in Myanmar. Bei gewalttätigen Unruhen im April 2011 wurden sein Haus und seine Ernte niedergebrannt – zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren. Sein Bruder hatte das Land bereits ein Jahr zuvor, als die religiös motivierte Gewalt gegen Rohingya-Muslime bereits an der Tagesordnung war, mit seiner Familie in Richtung Cox’s Bazar in Bangladesch verlassen.

Aarif, seine Frau Nagma und die drei Söhne packten ihre verbliebenen Habseligkeiten und schlossen sich einer Gruppe von 300 Menschen an, die sich auf den Weg nach Bangladesch machten und erst wiederkehren wollten, wenn sich die Lage wieder beruhigt haben würde. Nach neun Tagen Fußmarsch erreichten sie in einer finsteren Nacht im Mai 2011 die Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch. Kaum angekommen, explodierte der Boden unter Nagmas Füßen: vermutlich eine der Landminen der myanmarischen Grenzschutzeinheit Nasaka, die angeblich dazu dienten, die Rückkehr der Rohingya-Flüchtlinge nach Bangladesch zu verhindern.
Nagma blutete heftig, Splitter hatten eine tiefe Wunde in ihr rechtes Bein gerissen. An der Grenze standen lange Schlangen von Flüchtlingen, die sich in Wartelisten eintragen mussten, um die Grenze zu passieren. Frühestens in zehn Stunden, hieß es, würden sie nach Bangladesch einreisen können, wo Nagma Aussicht auf Behandlung in einer provisorischen Klinik gehabt hätte. Aarif bat seine Söhne, sich um Nagma zu kümmern, während er nach einer Möglichkeit suchen wollte, die Grenze doch schneller zu passieren. Als er nach einer Stunde zurückkehrte, war seine Familie und die meisten anderen Menschen geflohen – Gerüchte hatten sich verbreitet, dass burmesisches Militär auf dem Weg zur Grenze war, um die Geflüchteten anzugreifen. Er sollte seine Familie lange nicht wiedersehen.

Ein Jahr lang hatte er in Cox’s Bazar schon nach ihnen gesucht, als ihm jemand erzählte, dass seine Familie in Jammu sei. Eine Woche später, im Juni 2012, reiste er nach Indien, nahm einen Zug von Kolkata nach Jammu und erreichte das Narwal-Camp in der Nähe von Kariyani Talab.

Shahida und Younis, die Nachbarn, die sich Mumtaz’ angenommen hatten, waren Aarifs Onkel und Tante mütterlicherseits. Sie halfen ihm bei der Suche nach Nagma und den Jungen. Sogar nach Hyderabad und Delhi fuhren sie, weil es dort große Rohingya-Siedlungen gibt, jedoch ohne Erfolg.
Als ein Jahr später eine weitere Welle von Rohingya-Flüchtlingen Jammu erreichte, hörte er von einer der neu eingetroffenen Familien, das burmesische Militär habe Nagma und seine Söhne getötet. Aarif verfiel monatelang in tiefe Depressionen. Um ihm herauszuhelfen, beschlossen die Oberhäupter des Lagers, ihn mit Mumtaz zu verheiraten. „Das hilft den Menschen, ein neues Leben zu beginnen“, sagt Yousuf, einer der selbsternannten Anführer im Lager. „Aarif wollte zunächst nicht, aber wir haben ihn überzeugt. Beide waren allein, also war es das Richtige. Außerdem sollte man ein unverheiratetes Mädchen möglichst schnell unter die Haube bringen.“

Aarif und Mumtaz heirateten im September 2014 und errichteten sich in der Siedlung eine Baracke. „Stück für Stück habe ich sie genauso gebaut wie unsere in Maungdaw. So wie es früher meine Mutter getan hat“, sagt Mumtaz. Sie stellte hohe Bambusstangen auf und stützte die Decke mit dreilagigen Bambuswänden aus Bambusmatte, Plane und Decken. Anders als indische Hütten hatte das Haus auch einen Dachboden. „Dachböden sind gut, wenn die Erde feucht ist“, erklärt sie.

Nun schien ein neues Leben zu beginnen. Aarif arbeitete als Tagelöhner bei einer örtlichen Firma, die in Jammu Breitbandkabel verlegte. Mumtaz verwandelte sich von einem ausgemergelten, blassen kleinen Mädchen mit verfilzten Haaren in eine üppige, strahlende Frau mit neuen Kleidern und gepflegtem Haar. Sie musste nicht mehr babysitten oder Kindern anderer Leute die Haare schneiden, um Essensreste und alte Kleidung zu ergattern. Jetzt verbrachte sie ihre Zeit damit, ihr Haus instand zu halten oder ihre Kleider, Haarbänder, Burkas und sogar ihre Wände mit Brokat- oder Paillettenstickereien zu verzieren. Shahida und Younis waren inzwischen zu ihrem ältesten Sohn gezogen, der in einer Rohingya-Siedlung im Mewat-Distrikt in der Provinz Haryana lebte, 700 Kilometer von Jammu entfernt.
„Aarif war ein zurückhaltender, ruhiger Mann. Mumtaz dagegen war gesprächig, extrovertiert und gesellig. Sie vergaß, dass sie jetzt eine verheiratete Frau war und nicht mehr wie ein verwöhnter Teenager herumspringen konnte“, erinnert sich Afsana, ihre 40-jährige Nachbarin, missbilligend.

Rubaiya, eine andere Nachbarin, fällt ihr ins Wort: „Die Arme, nach drei Jahren hatte sie endlich wieder jemanden. Und Aarif hat es ihr nie untersagt, unter die Leute zu gehen.“

„Immer wieder hat sie sich mit Aarif über dummes Zeug gestritten. Warum isst er nicht das Mittagessen, das sie ihm einpackt? Warum redet er so wenig mit ihr? Warum spricht er dauernd von Nagma und seinen Söhnen? Und warum kauft er kein Smartphone, mit dem man Musik hören und Filme sehen kann?“, ergänzt Afsana. „Für eine Ehefrau ist es eine Sünde, ihren Mann zu verhören und ihn so zu belästigen – große Klappe und einfach drauf los, obwohl sie ihre ganze Familie verloren hatte.“

Eines Tages kaufte Aarif schließlich doch ein Mobiltelefon, das Musik spielte und Internet hatte. Er war ständig mit WhatsApp zugange und schaffte es schließlich, mit Angehörigen seiner vertriebenen Familie und Freunden, die es nach ganz Asien verschlagen hatte, in Kontakt zu kommen. Mithilfe von verschiedenen WhatsApp-Gruppen fand er seinen älteren Bruder in Malaysia, einen Onkel in den Vereinigten Arabischen Emiraten, einen Neffen in Delhi. „Viele Rohingya finden so ihre Familien und Freunde wieder”, erklärt Yousuf.

Ein Jahr später, im September 2017, stieß er in einer der Gruppen auf diese Nachricht: „Mohd Salim, Sohn von Mohd Aarif aus Buthidaung in Myanmar, sucht seinen Vater, Kontaktnahme unter folgender Nummer.” Aarif rief sofort an.

„Er sprach mit seiner Frau und dem älteren Sohn Salim, die noch immer in Bangladesch waren, im Flüchtlingslager Kutupalong in Ukhia, Cox’s Bazar.”
Zwei Tage später trank Aarif wie jeden Morgen seinen Tee, Mumtaz packte ihm wie jeden Morgen sein Mittagessen ein. Er übergab Mumtaz ein neues Smartphone und erklärte ihr trocken, dass er seine Familie gefunden habe. Bevor Mumtaz ihm auch nur eine Frage stellen konnte, verschwand er zur Arbeit. Er kam nicht mehr nach Hause, weder an diesem Abend, noch am nächsten oder den Abenden danach. Seitdem sind vier Monate vergangen.
Yousuf sagt: „Kaum zu glauben, dass ihr Ehemann sie gerade verlassen hat! Sieh dir nur ihre funkelnde Burka an. Und keine Spur von Trauer in ihrem Gesicht.”

Mit ihrem blauen Smartphone hat Mumtaz über WhatsApp herausgefunden, dass Aarif wieder bei seiner Familie ist. „Ich kann ihn nicht erreichen, nicht einmal seinen Sohn. Ich habe auch kein Geld, um hinzufahren”, sagt sie und zeigt auf das Bild von Aarif und seiner Familie in Bangladesch.
Neulich erzählte Yousuf Mumtaz, Aarif habe ihm gesagt, er wolle sich in Bangladesch niederlassen. „Es gibt ja auch keinen Grund, weshalb er zurückkommen sollte. Er hat nicht einmal Kinder mit Mumtaz. Sie ist verflucht, deshalb bleibt niemand bei ihr – die Familie nicht, der Ehemann nicht, niemand”, sagt er.

Rückblickend, findet Mumtaz, sei es eher gut, dass sie keine Kinder habe – wie hätte sie ihnen erklären sollen, dass sie verlassen wurden?
Heute arbeitet Mumtaz von zu Hause, sie stickt für ein Modegeschäft in der Gegend und verdient sich so ihren Lebensunterhalt. Anders als andere alleinstehende Frauen, die für etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf die Kinder der Gemeinschaft hüten.

„Mir war immer klar, dass sie schwarze Magie praktiziert. Diese ganzen Nadeln und Fäden. Wie sonst kann ein junges, alleinstehendes Mädchen ohne Hilfe der Gemeinschaft überleben?”

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