Nachbarschaftshilfe
Bessere Nachbarschaft dank Corona
Mit dem Coronavirus hat sich 2020 eine Welle der Hilfsbereitschaft in deutschen Nachbarschaften ausgebreitet. Aber bleibt der neue Zusammenhalt auch „nach Corona“ erhalten?
Von Johannes Zeller
Wenn Sabine durch ihren Kiez läuft, sind ihr viele Gesichter bekannt – gar nicht so selbstverständlich in einer Millionenmetropole wie Berlin. Einiges hier erinnert fast an ein Leben auf dem Dorf: Mit ihren Nachbar*innen tauscht sie Pflanzenableger oder geht Boule-Spielen, mit der Frau von gegenüber paukt sie für deren Deutschprüfung und als ihr Fahrrad geklaut wird, bieten gleich mehrere Nachbar*innen an, ihr eines zu leihen.
So jedenfalls erzählt Sabine es der Online-Plattform nebenan.de, dem mit knapp zwei Millionen Nutzer*innen größten Nachbarschaftsnetzwerk in Deutschland, über das sie sogar ihre beste Freundin kennengelernt hat. Seit 2015 bietet die Plattform ihren User*innen die Möglichkeit, die eigene Nachbarschaft online und offline besser kennenzulernen, sich auszutauschen, Gemeinschaftsprojekte zu organisieren oder sich gegenseitig zu unterstützten. Sabine, immerhin über 80 Jahre alt, hat sich extra dafür in die Technik eingearbeitet. „Wichtig ist, wenn man älter wird, dass auch mal jemand vorbeikommt“, erklärt die Seniorin.
Als sich im März 2020 die COVID-19-Pandemie in Europa ausbreitet, wurde dies noch wichtiger – aber auch umso schwieriger. Vor allem Menschen, die den Risikogruppen angehören, standen plötzlich vor vielen offenen Fragen: Wie soll man zum Beispiel Lebensmitteleinkäufe oder den Gang zur Apotheke bewältigen, ohne sich dabei der Gefahr der Ansteckung auszusetzen?
Hilfe in Rekordzeit
Zahllose engagierte Bürger*innen ergriffen die Initiative und boten ihren Mitmenschen an, in solchen und anderen Situationen zu helfen. Angesichts der Kontaktbeschränkungen vernetzten sich viele über das Internet: Eine Plattform dafür fanden sie außer bei nebenan.de auch bei CoronaPort.net, dem Hilfsportal eines Schülers aus Berlin. Die auf schnelle und individuelle Corona-Hilfe ausgelegte Plattform ging erst im März 2020 online. Nutzer*innen tragen sich hier auf einer virtuellen Stadtkarte ein, um Hilfe in ihrer Wohngegend zu suchen oder anzubieten. Dabei kann man nach bestimmten Arten der Unterstützung filtern – beispielsweise nach kleineren oder größeren Einkäufen, Haushaltshilfe, oder Gütern wie Desinfektionsmittel.Beiden Netzwerken gelang es, schon während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 Menschen aus Risikogruppen mit hilfsbereiten Nachbar*innen zu verbinden, die innerhalb der nächsten Monate zehntausende Menschen individuell unterstützten. CoronaPort.net erlebte gleich nach Gründung einen rasanten Zuwachs an Nutzer*innen, innerhalb weniger Tage erschienen hunderte Hilfsgesuche und -angebote auf der interaktiven Karte. Und auch bei nebenan.de verdoppelten sich in März 2020 die Neuanmeldungen: während nur eines Monats entdeckten 200.000 neue Nutzer*innen die Plattform für sich.
Um auch Menschen ohne Internet nicht auszuschließen, richtete nebenan.de zusätzlich eine Hotline für Nachbarschaftshilfe ein und verteilte Aushänge für Treppenhäuser. In vier Monaten gingen so 7.600 Hilfsanfragen ein. 85 Prozent davon konnten erfolgreich vermittelt werden – ein Großteil innerhalb weniger Stunden oder Tage. Besonders gefragt war Hilfe beim Einkaufen, bei Haushaltstätigkeiten und Tierbetreuung.
Gemeinschaft und Nachbarschaft gewinnen an Bedeutung
Auch Städte, Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen wurden im Frühjahr 2020 aktiv. Rama aus Marburg gehört zu den über 300 Freiwilligen, die sich in der Corona-Hilfe engagierten, einem Kooperationsprojekt der Stadt Marburg mit der Freiwilligenagentur, der Caritas und der Alzheimerhilfe. Zweimal wöchentlich ging sie einkaufen, damit ältere Menschen sich nicht dem Ansteckungsrisiko im Supermarkt aussetzen mussten. „Ich bin froh, dass ich sie in dieser schweren Zeit unterstützen kann“, erzählte sie im Interview.Auch in anderen Kommunen taten sich Behörden und Hilfsorganisationen zusammen, um in kürzester Zeit Hilfsangebote auf die Beine zu stellen. Ehrenamts-Initiativen wie StoP Partnergewalt, die schon lange auf freiwillige Helfer*innen setzen, machten weiter, als im Lockdown die Fälle von häuslicher Gewalt in die Höhe stiegen: Sie überbrachten Infoblätter in Lebensmitteltüten, machten Aushänge mit Hilfsangeboten für Gewaltopfer und griffen zum Telefon, um bei Nachbar*innen persönlich nachzufragen, wie es ihnen geht.
Wie vielfältig die Gemeinschaftsaktivitäten waren, zeigten vor allem die vielen privaten Initiativen. Als im Frühjahr 2021 die Impfkampagne anlief, richteten Nachbarschaftsgruppen Fahrservices zu Impfzentren ein oder unterstützten ältere Menschen bei der Anmeldung. Bei lokalen Hilfsgruppen boten Handwerker*innen und Physiotherapeut*innen ihre Unterstützung an, es meldeten sich Menschen, die Nachhilfe, Kinderbetreuung oder Begleitung von Demenzkranken übernehmen wollten.
Von Corona-Hilfe zu langfristigen Hilfsbeziehungen
Es klingt nach der Wiederentdeckung der Nachbarschaft: Menschen, die einander helfen, die einfach mal bei den Nachbar*innen klingeln, zusammen Zeit verbringen. Während der Corona-Pandemie hätten viele „den unschätzbaren Wert des Füreinander-Da-Seins und der zwischenmenschlichen Hilfe“ viel klarer gesehen als zuvor, meint Sebastian Gallander, Geschäftsführer der „nebenan.de Stiftung“.Ob diese Erkenntnis auch auf lange Sicht weiterlebt, wird sich noch zeigen müssen. Eine Umfrage von nebenan.de gibt aber zumindest einen Hinweis: So ist aus knapp einem Drittel der Hilfs-Partnerschaften, die in den ersten vier Corona-Monaten über die Plattform vermittelt wurden, eine regelmäßige Hilfsbeziehung entstanden, die auch „nach Corona“ weiterleben werde. Auch Gruppen und Freundschaften, die durch gemeinsame Lockdown-Aktivitäten wie Balkon-Singen oder Masken-Nähen für die Nachbarschaft entstanden sind, existierten großenteils weiter, so das Netzwerk.