Brasilien
Zeit zusammenzustehen - nur nicht zu sehr
Brasilien hat das Virus durchgemacht, seine Leugnung durch die Regierung und all die Fake News rund um die Pandemie. Dazu sah sich die Bevölkerung angesichts dessen, dass Küsschen auf die Wange und Umarmungen gleichbedeutend mit Tod sein konnten, gezwungen, Umgangsformen zu überdenken. Unter dieser neuen Realität fragt sich die Künstlerin Rosana Paulino: Was heißt es nah zu sein, und was bedeutet fernbleiben?
Von Rosana Paulino
Nach Ausbreitung der Pandemie unterschieden sich der Umgang mit ihr und die Veränderungen zum Überleben von Land zu Land deutlich. In Brasilien musste ein Teil der Bevölkerung gleichzeitig an unterschiedlichen Fronten kämpfen: gegen die Pandemie, gegen die Tatenlosigkeit und das Chaos einer genoziden Regierung, gegen Fake News und inkohärente Nachrichten über die Krankheit sowie gegen den Mangel an medizinischer Versorgung. Zudem waren wir mit der Notwendigkeit konfrontiert, Umgangsformen zu überdenken, wenn ein Küsschen auf die Wange und eine Umarmung gleichbedeutend sein konnte mit Tod. Was bedeutet es unter diesen neuen Bedingungen nah zu sein oder fern zu bleiben? Was ist der tatsächliche Sinngehalt von Nähe und Distanz?
Zweifellos wurden angesichts dieser Lage wichtige Lektionen gelernt oder hätten gelernt werden müssen. Die erste, die wir vielleicht schon kannten und uns nur weigerten anzuerkennen, ist, dass wir uns in Bezug auf die Armen stets selbst die Nächsten sind. Diejenigen, die gemeinhin als „Elite“ bezeichnet werden, steckten erst die an, die weniger haben, um dann alle Regeln zum Umgang mit der Krankheit zu missachten.
Gemeinschaftliche Lösungen
Andererseits erwies sich die Organisation der Verletzlichsten in einigen Fällen als überraschend. Gemeinschaftliche Lösungen, die von bereits existierenden Organisationen ausgingen, wie etwa den „G10 der Favelas“, zu denen sich die zehn größten städtischen Siedlungen des Landes zusammengetan haben, bewiesen ihre Schlagkraft und Fähigkeit dadurch, dass etwa Heliópolis, laut dem Lexikon der Favelas „Marielle Franco“ zweitgrößte Armensiedlung Lateinamerikas, bessere Zahlen bei Identifikation, Isolierung und Behandlung von Virus-Infizierten aufwies als die Stadt São Paulo oder der gleichnamige Bundesstaat.Die Bevölkerung dieser Orte lebt unter der Herausforderung einer Existenz unter äußerster körperlicher Nähe. Nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund mangelnder Alternativen bei teuren Mieten und steigender Grundstückspreise im städtischen Raum. Es wurde befürchtet, dass es in diesen aufgrund ihrer Bevölkerungsdichte unter COVID-19 als Pulverfass angesehenen Gebieten (eine Erhebung der Institute Locomotiva und Data Favela zeigen, dass in drei von zehn Haushalten mehr als drei Personen pro Zimmer leben) bei Ausbruch des Virus zu einer Sterblichkeit ungekannten Ausmaßes kommen würde. Die erreichten Erfolge jedoch zeigen, welche Kraft ein gemeinsames Handeln haben kann, das vom Staat unterstützt wird. Abzuwarten bleibt, ob es dieser aus der Not entstandenen Organisationen gelingt, sich nachhaltig zu strukturieren. Falls ja, kann dies zu bisher ungekannten strukturellen Veränderungen führen, dem Aufkommen neuer und schlagkräftiger Organisationen und Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, die Regierenden in Brasilien auf ungekannte Weise unter Druck zu setzen.
Technik und Ungleichheit
Auch wenn Technik eine vordringliche Rolle gespielt hat in der Begegnung mit der Krankheit und im zwischenmenschlichen Kontakt, scheint sie zugleich zu einer Vertiefung der Ungleichheit zu führen und zur Zerstörung von Bildungschancen. Denn die Zeit der Abschottung für die eigene Weiterentwicklung zu nutzen, ist nicht nur ein Luxus für wenige, da viele weiterhin arbeiten mussten, es braucht auch gute Computer mit guter Internetanbindung.Die brasilianische Wirklichkeit allerdings ist, dass die meisten Personen dazu das Smartphone nutzen, ihnen nur begrenzte Datenmengen zur Verfügung stehen und insbesondere nicht das Wissen darüber, wie qualitätsvolle Inhalte zu finden sind, was den Radius auf die bekanntesten Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und jüngst TikTok beschränkt. In einer Situation, in der Wissen und Nicht-Leugnen entscheidend nicht nur gegen das Virus sind, sondern genauso im Kampf gegen die globale Klimaerwärmung, die das menschliche Leben weltweit bedroht, schränken falsche oder wenig sachdienliche Informationen sowohl die Wahlfreiheit der Individuen als auch politische und gesellschaftliche Systeme ein.
Eine Lawine der Online-Veranstaltungen
Was die Kultur angeht, entging auch Brasilien nicht einer Welle von Online-Veranstaltungen. Der Begriff Nähe bekam neue Ausmaße mit der Verbreitung von Videoübertragungen, von denen manche extrem relevant waren, getrieben von einer ursprünglichen Beunruhigung unterschiedliche Akteure zusammengebracht haben und ohne unser pandemisches Exil vermutlich nie stattgefunden hätten. Ich überlege mir, wie wir in Zukunft mit diesem nun im Internet vorhandenen Bestand umgehen. Was wird bleiben? Was wird nur Zeugnis dieses Augenblicks sein? Was war wirklich wichtig? Wie werden wir diese Begegnungen katalogisieren, erforschen, verbreiten? Wie werden wir diese durch Onlineformate entstandene Fülle an Wissen ordnen?Mit ihrer Zugänglichkeit haben Online-Veranstaltungen auch zu einer Verkürzung der Distanz zwischen Universität und Individuen, peripherer und hegemonischer Kultur beigetragen und es manchen Akteuren ermöglicht, Eingang zu finden, die Blockade der Machtzentren zu durchdringen und die Reichweite ihrer Stimmen zu erweitern – andere Gesichtspunkte einzubringen, die das kulturelle Umfeld bereichern. Ein gutes Beispiel war die Verlegung des Literaturfestivals der Periferien FLUP ins Internet durch die FLUP DIGITAL 2020. Die Begegnungen, die in diesem Jahr der Schwarzen Intellektuellen Lélia Gonzalez gewidmet waren, erreichten zu Spitzenzeiten mehr als siebentausend Zugriffe und boten Individuen wie der gesamten Gemeinschaft Ausdruckskanäle, wie sie das kulturelle Brasilien bisher nicht hatte. Erinnert sei ebenso daran, dass der Schwarze Feminismus sich ebenfalls durch klugen Einsatz des Internets zu einer politischen und kulturellen Kraft in Brasilien entwickelte. Ob die Kulturproduktion von Schwarzen und Indigenen, Frauen und aus der Peripherie denselben Weg einschlägt und zu einer festen Größe wird, sollte in den kommenden Jahren aufmerksam im Auge behalten werden.
Schließlich möchte ich sagen, dass, auch wenn die Pandemie nicht imstande war, die riesige Welle der Solidarität und gesellschaftlicher Veränderung auszulösen, wie es sich die Optimistischsten ausmalten, hat sie doch wenigstens dazu gedient, Aspekte der kollektiven wie individuellen politischen Beteiligung aufzuzeigen, an denen es auf brasilianischer Ebene bisher gefehlt hat. Auch wenn die Angaben dazu widersprüchlich sind und manche auf eine Zunahme der Solidarität hinweisen, andere auf ihren Rückgang, scheint mir, dass einige der in der Pandemie angewandten Strategien nachhaltige Effekte auf die Gesellschaft haben werden. Und zwar insofern Individuen begreifen, dass ihre Mobilisierung Anstoß für eine neue Art sich gegenüber der Welt zu positionieren sein kann. Und das hat für uns zu einer beträchtlichen Zunahme dessen geführt, was wir im elementarsten Sinne politische Partizipation nennen.