Arm und Reich in Deutschland
Die Entwicklung der Ungleichheit
Die Coronapandemie verstärkt bereits vorhandene soziale Ungleichheiten. | Foto (Ausschnitt): © picture alliance/dpa/Paul Zinken
Raum haben zum Wohnen, Arbeiten und Abstand halten – all dies wurde während der Coronapandemie plötzlich zum Luxusgut. Weshalb soziale Distanzierungsmöglichkeiten ein Parameter für Ungleichheit sind und Kinder besonders treffen.
Von Christoph Butterwegge
Krank oder gesund – auch eine Frage des sozialen Status
Seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie wurde öffentlich immer wieder über die Entwicklung von Arm und Reich diskutiert. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob diese Ausnahmesituation auch die gesellschaftliche Ungleichheit verschärfe. Dass sich beispielsweise persönliche Nähe und soziale Distanz auf den Gesundheitszustand auswirken, wurde vielen Menschen erst während der Pandemie richtig bewusst – ebenso wie die Tatsache, dass der Gesundheitszustand von den materiellen Ressourcen einer Person abhängig ist. Je nachdem, in welcher finanziellen Situation und sozialen Position sich die Menschen befanden, auf die das Virus stieß, wichen die gesundheitlichen Folgewirkungen für die Betroffenen zum Teil erheblich voneinander ab. Das hat mehrere Gründe.Beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse, etwa in Gemeinschaftsunterkünften, erhöhten das Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus sowie für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf stark. In Flüchtlingsheimen, in denen selbst große Familien keine eigenen Sanitäranlagen haben, sowie Abstands- und Hygieneregeln nur mit erheblicher Mühe oder gar nicht einzuhalten sind, war die Ansteckungsgefahr besonders groß. Wer privilegiert war, im Homeoffice am eigenen Schreibtisch arbeiten oder mit dem Wagen ins Büro fahren konnte, hatte zudem ein sehr viel geringeres Infektionsrisiko als Menschen, die in der Produktion oder in Berufen mit Kundenkontakt arbeiten oder sich zur Hauptverkehrszeit in vollen Bussen und Bahnen aufhielten.
Die Lerndistanz verschärft sich
Doch nicht nur in Bezug auf die physische Gesundheit hatte die Pandemie stärkere Auswirkungen auf ärmere als auf reichere Menschen. So machte es auch für Kinder während des zweimaligen Lockdowns einen riesigen Unterschied, ob sie in einer Villa mit großem Garten und eigenem Kinderzimmer oder mit ihrer Familie auf zwei Zimmern in einer Hochhauswohnung am Stadtrand lebten. Oft fehlten armen Kindern ein eigenes Zimmer und damit ein ruhiger Arbeitsplatz, der ihnen ein konzentriertes Lernen ermöglicht hätte. Sie waren im Homeschooling stärker überfordert als ihre materiell bessergestellte Klassenkamerad*innen. So schuf das Distanzlernen noch mehr Lerndistanz ausgerechnet bei jenen Kindern, die man in der Öffentlichkeit ohnehin häufig als „bildungsfern“ bezeichnet. Zusätzlich vergrößerten in migrierten Familien die Sprachbarrieren das Problem: Sprachen die Eltern nur wenig Deutsch, konnten sie auch nicht als „Ersatzlehrkraft“ herhalten und ihre Kinder im Homeschooling unterstützen. Auf diese Weise wurde die Schülerschaft aus sozial benachteiligten Elternhäusern im Extremfall regelrecht abgehängt und die schon vor Ausbruch der Pandemie bestehende Bildungsungleichheit zementiert.
Frust einer Abschlussklasse. | Foto (Ausschnitt): © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Stefan Sauer
Einsamkeit beeinträchtigt die Persönlichkeitsentwicklung
Der mehr als anderthalb Jahre dauernde Ausnahmezustand bedeutete für Heranwachsende eine sehr viel längere Zeitspanne als für Erwachsene. Gerade in der Adoleszenz wirken aufgezwungene Vereinzelung, Vereinsamung und soziale Isolation, die für manche junge Menschen mit dem wiederholten Lockdown verbunden waren, ausgesprochen deprimierend, weil diese Lebensphase für die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen und die Frage, wie selbstbewusst sie als Erwachsene auftreten können, von entscheidender Bedeutung ist.Minderjährige, die ihre Freund*innen und Klassenkamerad*innen nicht mehr treffen konnten, sich aber wegen der im ersten Lockdown aus Hygienegründen gesperrten Spielplätze und Sportanlagen selbst dort nicht mehr aufhalten durften, klagten besonders dann unter größerer Vereinsamung, wenn sie Einzelkinder waren oder keine ungefähr gleichaltrigen Geschwister hatten. Während des zweiten, länger andauernden Lockdowns hatten diese Minderjährigen stark unter Erlebnisarmut und Langeweile zu leiden.
Dies galt insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, denen man ohnehin wenig Aufmerksamkeit schenkt: Für sie war die im Lockdown verhängte Kontaktsperre gegenüber Erzieher*innen und Lehrer*innen ein traumatisches Erlebnis, das in Einzelfällen panikartige Reaktionen auslöste. Kinder, die sich der Pandemie hilflos ausgeliefert, ohnmächtig und handlungsunfähig fühlten, gerieten völlig aus dem seelischen Gleichgewicht.
Aus der COVID-19-Pandemie kann man lernen, dass die Gesellschaft zusammenrücken muss, damit all ihre Mitglieder den nötigen Abstand beim Infektionsschutz wahren können, ohne persönliche Nachteile zu erleiden. Wenn der Staat nicht dafür sorgt, dass die unterschiedliche Ausstattung der Familien mit materiellen Ressourcen durch einen sozialen Ausgleich kompensiert wird, bleibt ein wachsender Teil der jungen Generation bildungsbenachteiligt. Gleichzeitig muss die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur ausgebaut werden, wobei der Schwerpunkt auf abgehängten Stadtvierteln liegen sollte. Überholt erscheint das gegliederte Sekundarschulsystem deutschsprachiger Länder, welches dazu beiträgt, die sozialräumliche Segregation in den Bildungsbereich hinein zu verlängern.