Bildung nach der Pandemie
„Es war keine verlorene Zeit“
Die sich aus der Pandemie ergebende Isolation hat in Brasilien auch zu einer Annäherung von Schule und Familien geführt. Christiane Sampaio beschreibt, wie Lehrkräfte einen umfassenderen Einblick in die wirklichen Lebensverhältnisse der Kinder bekamen und öffentliche Räume der Stadt größere Wertschätzung als wichtige Orte des Zusammenlebens und der Begegnung erhalten haben.
Von Christiane Sampaio
Obwohl das Virus uns eine Welt voller Krisen und Ungleichheit offengelegt hat, lassen sich aus der Pandemie auch Lehren ziehen. Die Schließung der Schulen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr in Brasilien hat zu einer merklichen Annäherung von Lehrkräften und Familien geführt – was eine dauerhafte Auswirkung auf das Bildungssystem haben kann. Lehrkräfte erhielten einen umfassenderen Einblick in die tatsächlichen Lebensverhältnisse brasilianischer Kinder, im Gegenzug kam es zu größerer Wertschätzung der Schule und anderer öffentlicher Räume der Stadt als wichtige Orte der Begegnung und des Zusammenlebens.
„Lehrkräfte haben sehr große Anstrengungen unternommen, um sich mit den Familien zu vernetzen, auch mit denen, die keinen Zugang zum Internet haben. Es gab eine große Offenheit dafür, die Familie, ihre Probleme, Herausforderungen und Diversität zu verstehen“, findet Maria Theraza Marcilio, Regionalkoordinatorin für den amerikanischen Kontinent des Projekts Global Leaders for Young Children des Weltbildungsforums und Gründungsvorsitzende der NGO für Bildung und gesellschaftliche Transparenz Avante – Educação e Mobilização Social, die sich seit 25 Jahren in Brasilien im Bildungsbereich engagiert.
Marcilio erinnert an das immer schon angespannte Verhältnis von Familie und Schule in Brasilien, vor allem in sozial vulnerablen Bereichen. „Schule neigt dazu, Eltern als Störfaktor zu begreifen, als würden Familien die Arbeit der Schule behindern. Familien wiederum empfinden sich nicht als gewollt und nehmen eine Abwehrhaltung ein. Das Sprichwort, dass es das ganze Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, wird nicht umgesetzt, weil es keinen offenen und vertrauensvollen Dialog gibt“, betont die Wissenschaftlerin.
Kaum Raum für Erziehende
Für eine abschließende Bilanz darüber, welche Auswirkungen ein größeres Bewusstsein und mehr Sensibilisierung auf politisch-pädagogische Projekte an den Schulen und die praktische Arbeit der Lehrkräfte haben werden, ist es noch zu früh. „Man muss verstehen, dass Lehrende in ein Netz eingebunden sind, das beengend sein kann und Bedingungen vorgibt“, betont Maria do Socorro Nunes, nationale Koordinatorin einer Studie des Verbundes Alfabetização em Rede (Netzwerkkompetenz) zum Fernlehren während der COVID-19-Pandemie, an der sich 29 brasilianische Universitäten und insgesamt 14.730 Lehrpersonen der vorschulischen und schulischen Bildung in 18 Bundesstaaten beteiligt haben.Laut der Wissenschaftlerin sind diejenigen Maßnahmen am effektivsten, in denen sich Lehrkräfte gemeinsam mit dem gesamten schulischen Team über Alternativen und Möglichkeiten unter Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten jedes einzelnen Kindes erarbeiten. Dies bedeutet auch herauszufinden, wer überhaupt technischen Zugang zu Fernunterricht hat und wer nicht. „Oft ist das Material vorgefertigt und setzt der Lehrperson enge Grenzen, was es unmöglich macht, eigene pädagogische Praxis einzubeziehen und die Aktivitäten entsprechend der eigenen Kenntnis der Kinder zu formulieren“, erklärt Nunes.
Neue Bezüge
Die vom Verbund Alfabetização em Rede erarbeitete Studie zeigt, dass sich aus neuen digitalen aber auch physischen Bedingungen eine neue Interaktion zwischen Familie und Schule entwickelt hat. „Lehrkräften steht eine Vielzahl an Mitteln zur Verfügung, Bücher als PDF-Dateien oder Videos, die Geschichten erzählen und über Whatsapp verschickt werden. Für Familien ohne Internetzugang wurden Taschen mit gedruckten Büchern gepackt und gebracht, die normalerweise ungenutzt in Kisten in den Schulbibliotheken lagern.“Nunes erzählt auch, dass das Lesen darüber in den Tagesablauf der Familien Eingang gefunden habe. „Selbst wenn die Eltern Analphabeten sind, können sie durchaus mit einem Buch in Kontakt kommen. Lesen bedeutet nicht nur das Entziffern. Es gibt viele Möglichkeiten zu lesen, und Kinder lesen auf unterschiedlichste Weise. Das Kinderbuch ist ein entscheidendes Instrument für die Sensibilisierung von Kindern für Schriftkultur“, so die Wissenschaftlerin.
Abläufe neu denken
Als eine weitere Lehre aus der Pandemie nennt Marcilio, wie wichtig es sei, Erfahrungen aus der Zeit der Isolation in die Schule zu tragen. „Die Leute reden davon, verlorene Zeit schnell nachzuholen. Aber es war keine verlorene Zeit. Man hat sie erlebt und daraus gelernt. Denn man lernt nicht allein in der Schule. Leben und Erfahrungen lassen sich nicht beschleunigen.“ Schule müsse nun alles auf den Prüfstand stellen, meint die Beraterin: „Abläufe müssen überdacht werden, die Altersaufteilung der Klassen, die Schulmaterialien, die Räume und das gesamte Umfeld in und außerhalb der Schule.“Isabella Gregory, Koordinatorin des Programms MOB.PI für Stadtplanung und Kinderbeteiligung der Bildungsinitiative CECIP (Centro de Criação de Imagem Popular) nennt als Beispiel die Stadt Alcinópolis im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Dort wurden das gesamte Umfeld der Schulen nach der Anhörung von Kindern umgestaltete. Dafür hat sich ein fachbereichsübergreifendes Team aus unterschiedlichen Dezernaten wie Umwelt, Bau, Bildung, Gesundheit, Soziales, der Bürgermeister, der Verwaltungschef, diverse Dienstleistungsbereiche, die Bereiche Ordnung und Sicherheit, bis hin zur Vertretung von Elternschaft und Lehrenden gebildet oder wurde einbezogen.
Am Anfang der Umgestaltung stand der Bau von Spielgeräten aus Abfallholz auf den Freiflächen einiger Schulen – an dem sich Fahrer*innen und Hausmeister*innen der entsprechenden Schulen beteiligten. „Die Pandemie gibt uns Gelegenheit, die Stadt zu einem menschlicheren und spielfreundlicheren Ort zu machen“, sagt Marieta Colucci, städtebauliche Beraterin des MOB.PI. Beide, Gregory und Colucci, glauben, dass die Nutzung von öffentlichen Räumen von fachübergreifenden Perspektiven und aus unterschiedlichen Blickwinkeln gedacht werden muss. „Wie kann eine kinderfreundliche Stadt aussehen? Wir raten immer dazu, in der Stadt auch an Orte zu denken, an denen der Alltag betreuender Personen und kleiner Kinder berücksichtigt wird.“ Bis September 2020 sind unter Federführung des MOB.PI neun ähnliche Initiativen wie die in Alcinópolis umgesetzt worden.