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Kluft zwischen Reich und Arm
Distanz als Privileg

Motorradkurier aus der Serie „Alltag“, Brasilien 2020.
Motorradkurier aus der Serie „Alltag“, Brasilien 2020. | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula

In Brasilien hat die Pandemie die Kluft zwischen Reich und Arm deutlich zutage treten lassen. Während die einen sich ins Homeoffice zurückziehen konnten, war anderen der Luxus nicht gewährt, nicht aus dem Haus gehen zu müssen.

Von Ana Paula Orlandi

Die erste Person, die in Rio de Janeiro offiziell an COVID-19 starb, war die 63-jährige Hausangestellte Cleonice Gonçalves, Diabetikerin und unter Bluthochdruck leidend. Angesteckt hatte sie sich bei ihrer Arbeitgeberin, die infiziert von einer Italienreise zurückgekehrt war. Gonçalves starb im März 2020. „Soziale Distanz als wichtigste Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus war in Brasilien ein Privileg, das nur wenige in Anspruch nehmen konnten“, sagt die Hausangestellte Janaína Mariano de Souza, Vorsitzende der Föderation der Dienstmädchen und Hausangestellten im Bundesstaat São Paulo. Laut einer im Juli 2021 veröffentlichten Erhebung des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung Ipea waren 2020 unter 83 Millionen Beschäftigten in Brasilien 74 Millionen Personen (88,9 Prozent) trotz der Pandemie weiterhin in Präsenz tätig.
Lediglich 8,2 Millionen Brasilianer*innen (11 Prozent) konnten laut dieser Studie ihre Berufstätigkeit in Distanz ausüben. Die meisten davon waren weiß, weiblich, zwischen 30 und 39 Jahre alt, aus dem Südosten Brasiliens und mit Universitätsabschluss in der Privatwirtschaft tätig.

Draußen, trotz Virus

„Unser Profil unterscheidet sich von dieser Beschreibung sehr deutlich“, betont Souza. Die Mehrheit der im Haushalt Beschäftigten, also Hausangestellte, Kindermädchen, Haushaltshilfen, Seniorenbetreuer*innen, sind Schwarze Frauen mit geringer Schulbildung aus den Randbezirken der Städte. Viele verdienen damit den Familienunterhalt. „Aufgrund der Tätigkeit, die sie ausführen, können diese Arbeitnehmerinnen natürlich kein Homeoffice machen“, sagt Souza. „Wer in der Pandemie nicht ohnehin die Arbeit verloren hat, muss trotz des bekannten Risikos, sich mit dem Virus zu infizieren, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Arbeitsplatz fahren, der meist in den besseren Vierteln liegt.“

Die Pandemie hat die im Alltag der Hausangestellt*innen herrschenden geschlechter-;  hautfarbe- und klassenbedingten Ungleichheiten noch deutlicher zutage treten lassen, stellt Rosaly de Seixas Brito fest. Die promovierte Anthropologin lehrt an der Fakultät für Kommunikation der Universidade Federal do Pará (UFPA). „Die Arbeit der Hausangestellten genießt ein geringes gesellschaftliches Ansehen und ist mit Stigmata behaftet, die in unserem Land, das sich auf Gewalt gründet und auf der Ausbeutung von versklavter Arbeitskraft sowie dem Genozid der ursprünglich hier lebenden Ethnien, seit Kolonialzeiten fest verwurzelt sind“, stellt Brito fest, die mit Danila Cal, ebenfalls von der UFPA, den Band Comunicação, gênero e trabalho doméstico – das reiterações coloniais à invenção de outros possíveis (Kommunikation, Gender und Hausarbeit – von kolonialer Fortschreibung zur Vorstellung anderer Möglichkeiten) herausgegeben hat. „In dem Bundesstaat Pará wurde Hausarbeit von der Regierung als systemrelevant eingestuft, was absurd ist. Es zeigt sich, dass die Gesundheit der in diesem Bereich Tätigen als ein vernachlässigbares Gut angesehen wird, das nicht dieselbe Beachtung verdient wie der Schutz anderer Personen in Brasilien“, erläutert sie.

Tod und Armut

Hausangestellte sind in dieser Exklusion allerdings nicht allein. Eine im Mai veröffentlichte Studie des Instituto Pólis auf der Grundlage von Daten der Gesundheitsbehörde der Stadt São Paulo zeigt, dass 37,8 Prozent der dort zwischen Mai 2020 und Mai 2021 gestorbenen Personen berufstätig waren – meist als Hausangestellte, Bauarbeiter*innen oder Taxi- beziehungsweise Mietwagenfahrer*innen. Von mehr als 30.000 Toten hatten 23.600 (76,7 Prozent) keinen Schulabschluss. „Betrachtet man den Schulabschluss der Todesopfer als indirekten Indikator für Einkommen, zeigt die Datenlage, das die Sterblichkeit an COVID-19 unter ärmeren Arbeiter*innen höher ist, die nicht selten informell und unter Bedingungen arbeiten, in denen Distanzarbeit nicht möglich ist“, schreiben die Autoren der Studie „Trabalho, território e covid no município de São Paulo“ (Arbeit, Territorium und Covid im Bereich der Stadt São Paulo).

„Die Pandemie ist bei uns mit dem Flugzeug gelandet, von der Elite mitgebracht worden, hat sich aber dann über die Favelas, die Stadtrandbezirke und Gebiete mit prekärer Wohnsituation verbreitet, mit Wohnungen, die oft nur über einen Wohnraum verfügen und allenfalls eine Toilette“, stellt Brito fest. „Wie der britische Geograf David Harvey sagt, ist die Pandemie des neuen Coronavirus eine Pandemie der Klassen, Gender und Hautfarben“, bemerkt die Anthropologin.

Unmöglichkeit der Distanz

Eine Studie des Solidarischen Recherchenetzwerks Rede de Pesquisa Solidária von etwa 50 brasilianischen Forscher*innen im Jahr 2020 stützt diese Wahrnehmung. Bei der Analyse der Daten fällt auf, dass Schwarze Männer ein um ungefähr 45 Prozent höheres Risiko haben, an dem Coronavirus zu sterben als weiße Männern in Berufen, denen ein Universitätsabschluss zugrunde liegt, wie etwa bei Architekten, Juristen oder Ingenieuren.

Laut dem Soziologen Ian Prates vom Brasilianischen Zentrum für Analyse und Planung Cebrap, der die Studie koordiniert, erklärt sich dies aus drei Elementen: „Eins davon ist die Segmentierung des Marktes: selbst wenn sie denselben Beruf ausüben, besetzen Weiße die besseren Arbeitsplätze als Schwarze in Brasilien. Ein weiteres Element ist die räumlich-soziale Situation in Verbindung mit einer Segregation der Wohnbereiche. Schwarze leben in der Regel in peripheren Gebieten und sind aufgrund dieser Ungleichheit einer höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, öffentliche Verkehrsmittel benutzen zu müssen und mehr unterwegs zu sein. Darüber hinaus lässt sich seit Beginn der Pandemie überall auf der Welt, also nicht nur in Brasilien, beobachten, dass in peripheren Stadtgebieten die Ansteckungshäufigkeit durch COVID-19 aus unterschiedlichen Gründen höher ist. Einer der Gründe ist die Unmöglichkeit von sozialer Distanz. Das dritte Element ist schließlich, dass Weiße meist besseren Zugang und in der Regel auch eine höherwertige Gesundheitsversorgung haben.“

Digitale Inklusion und Exklusion

Die Pandemie hat Missstände wie den Hunger und Arbeitslosigkeit im Land verstärkt. „Diese Probleme werden sich noch lange hinziehen“, prognostiziert der Wirtschaftswissenschaftler Lauro Gonzalez, Leiter des Studienzentrums Mikrofinanz und finanzielle Inklusion der Fundação Getúlio Vargas. „Maßnahmen des Einkommenstransfers sowie die Kreditvergabe vor allem an kleine Unternehmen und informell Beschäftigte müssen überdacht und ausgebaut werden. Doch hierbei muss das Wohl der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, ohne auf kurzfristige Wahlerfolge zu schielen.“

Ein weiterer Punkt, der laut Gonzalez Beachtung verdient, ist die digitale Inklusion insbesondere der vulnerabelsten Schichten. „Die meisten der 47 Millionen Personen, die in Brasilien kein Internet nutzen, gehören den sogenannten Klassen D und E an - mit einem Familieneinkommen von maximal 300 Euro im Monat und sind am stärksten auf Transferleistungen angewiesen. Die Registrierung für solche Programme darf nicht nur digital erfolgen. Sprechstunden auf den Ämtern auf lokaler Ebene sowie Sozialbetreuung müssen in direktem Kontakt weiter möglich sein. Die Ungleichheit im Lande, die jetzt schon gigantisch ist, darf sich nicht noch weiter verstärken.“

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