Die Entwicklung des südkoreanischen Arbeitsmarkts
„Es sollte ein neues Grundgesetz für Arbeitnehmer*innen geben“
Durch die Coronapandemie hat sich der südkoreanische Arbeitsmarkt stark verändert. In einem Interview spricht Forscher Jong-Jin Kim über die Gewinner*innen und Verlierer*innen der Coronakrise – und wie entstandene gesellschaftliche Probleme angegangen werden sollten.
Von Minjee Kum
Wie hat die Corona-Pandemie den südkoreanischen Arbeitsmarkt bislang beeinflusst?
Jong-Jin Kim: Im Februar 2020 wurde Social Distancing in Südkorea eingeführt. Das führte dazu, dass fast alle Reise-, Flug-, Transportunternehmen und andere direkte Dienstleitungsunternehmen sowie fast alle Gesellschaftsschichten große finanzielle Schäden erlitten. Viele Menschen mussten ihre Arbeit aufgeben oder waren gezwungenermaßen zu pausieren; die monetären Verluste nicht festangestellter Arbeitnehmer*innen waren noch stärker. Die „Gewinner*innen“ in dieser Zeit waren Unternehmen der IT-, Kommunikations- und Finanzbranche. In diesem Bereich stiegen die Beschäftigtenzahlen sowie das Leistungsentgelt. Seit der Coronapandemie wird über eine „k-förmige Entwicklung“ in der südkoreanischen Gesellschaft gesprochen. Die Einkommen Festangestellter in großen Konzernen und im öffentlichen Dienst steigen, während die niedrigen Einkommensklassen von stark sinkenden Gehältern betroffen sind. Die wirtschaftliche und soziale Spaltung zwischen diesen Berufsgruppen wird immer größer.
Die Pandemie hat besonders Menschen im Dienstleistungssektor und die junge Generation stark getroffen. Wie kommt das?
Jong-Jin Kim: Gemäß Berichten der Internationalen Arbeiterorganisation und der OECD von 2020 und 2021 sind vier Gruppen am stärksten von der Pandemie betroffen: Nicht Festangestellte, Arbeitnehmer*innen im informellen Sektor, junge Erwachsene und Frauen. Der Berufseinstieg für junge Erwachsene verzögert sich um zwei bis drei Jahre. Dies führt zu einem drastischen Anstieg von Depressionen und Selbstmorden bei diesen Personengruppen. Da im Dienstleistungsbereich zunehmend Arbeitsplätze abgebaut werden, stellen viele Kinos und Fast-Food-Ketten weniger Personal ein. Zudem verlieren viele Frauen ihre Arbeit als Altenpflegerinnen, da viele Familien in Südkorea ihre älteren Angehörigen aufgrund der Infektionsgefahr nicht in Betreuungseinrichtungen wie Altersheimen wohnen lassen möchten, sondern lieber Zuhause pflegen. Wir sehen also, dass Personen in niedrigbezahlten oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen am stärksten von der Pandemie getroffen wurden.
Gibt es Arbeitnehmer*innen, die aufgrund ihres Berufs eine bessere Chance auf Homeoffice haben als andere? Und wie hat sich die Entwicklung zwischen den Berufsfeldern verändert?
Jong-Jin Kim: Im Jahr 2021 haben über eine Million Menschen, also 5,4 Prozent aller Lohnarbeiter*innen Südkoreas, von zu Hause aus gearbeitet. Die meisten von ihnen waren Beschäftigte bei großen Konzernen, Festangestellte, reguläre Arbeitskräfte, Verwaltungsangestellte, also Menschen, die qualitativ gute Jobs haben und damit auch die größte Chance, von zu Hause aus zu arbeiten. Von allen OECD-Ländern haben Südkoreaner*innen die längsten Pendelzeiten. Durch Arbeit im Homeoffice können sie also viel Zeit sparen. Auch wenn jemand momentan bei einer Firma beschäftigt ist, die über keine flexiblen Arbeitsbedingungen verfügt, wünschen sich mehr und mehr Arbeitnehmer*innen, in Zukunft von zu Hause aus zu arbeiten.
Seit der Pandemie verdienen zunehmend Menschen über Plattformarbeit ihr Geld – also mit Dienstleistungen, die über Online-Plattformen vermittelt werden und entweder lokal als sogenannte Gigwork oder online als Crowdwork ausgeführt werden. Welche Probleme birgt diese Entwicklung?
Jong-Jin Kim: Crowdworker*innen und Gigworker*innen erhalten von Unternehmen über Websites und Apps Arbeitsaufträge; die Arbeitskräfte sind meist nicht festangestellt. Crowdworker*innen in Südkorea üben ihren jeweiligen Microjob, wie zum Beispiel kleinere Übersetzungsarbeiten oder Rechtsberatung, online aus. Gigworker*innen arbeiten ortsgebunden, liefern Essen aus oder erledigen Putz- und Fahrdienste.
Der Arbeitsmarkt Südkoreas besteht aus zwei Teilen: großen Konzernen mit über 300 Angestellten auf der einen und den kleinen und mittelständischen Unternehmen mit unter 300 Arbeitnehmer*innen auf der anderen Seite. Bisher war der Unterschied zwischen diesen beiden Unternehmensarten das größte Problem des südkoreanischen Arbeitsmarkts. Doch seit der Pandemie gibt es eine weitere Gruppe, die der „unbezahlten Arbeitnehmer*innen“. „Unbezahlt“ meint in diesem Kontext, dass das Einkommen dieser Personen stark schwankt, sie nicht fest bei einem Unternehmen angestellt sind und ihre Arbeitsbedingungen daher unsicher sind. Dazu zählen Personen, die Dienstleistungen anbieten wie Privatunterricht oder Fahrdienste, außerdem Plattformarbeiter*innen und Freelancer*innen. Deshalb spricht man nun vom dreigeteilten Arbeitsmarkt. Weil die Arbeit der „unbezahlten Arbeitnehmer*innen“ nicht auf einem Arbeitsvertrag basiert, sind sie nicht vom Arbeitsrecht oder Sozialgesetz geschützt. Es wird erwartet, dass Plattformarbeiter*innen nach der Pandemie ein fester Bestandteil des Arbeitsmarktes werden. Wie aber ihre Rechte garantiert werden sollen, das ist eine andere Frage.
Wie wird in Südkorea aktuell über die Situation von Plattformarbeiter*innen diskutiert?
Jong-Jin Kim: In der Politik finden aktuell große Veränderungen statt, auf die die Pandemie wie ein Katalysator wirkt und die ansonsten nicht so schnell stattfinden würden. So wurde zum Beispiel im März 2021 der Entwurf für ein Gesetz zum Schutz und für die Unterstützung von Plattformarbeiter*innen vorgeschlagen, welches momentan verabschiedet wird. Es soll garantieren, dass die Betreiber*innen und Nutzer*innen von Plattformdiensten schriftliche Verträge anbieten und bei unbegründeter Vertragskündigung Strafen gezahlt werden müssen.
Was muss getan werden, damit die Bedingungen im koreanischen Arbeitsmarkt gerechter werden?
Jong-Jin Kim: Im Moment werden die „unbezahlten Arbeitnehmer*innen“ auf 6,81 Millionen Menschen geschätzt. Wenn man Selbstständige dazu zählt, ist diese Zahl noch um einiges höher. Diese Leute werden aktuell nicht vom südkoreanischen Arbeitsrecht, das 1953 in Kraft trat, geschützt. Viele Bürger*innen fordern nun ein neues Grundgesetz für Arbeitnehmer*innen. Sobald jemand arbeitet, auch im Krankheitsfall, sollte dieser stündlich bezahlt werden oder das Recht haben, Urlaub zu nehmen. Außerdem sollten Arbeitnehmer*innen Chancen auf Weiterbildung erhalten und weitere Unterstützung wahrnehmen dürfen sowie das Recht haben, über faire Verträge und Regelungen mitzubestimmen. Wenn Gespräche zwischen Gewerkschaften und der Regierung auf lokaler und zentraler Ebene – unabhängig vom jeweiligen Berufsstand – geführt werden, ist schon ein großer Schritt in die richtige Richtung getan.
Interviewpartner
Jong-Jin Kim | Foto (Ausschnitt): © Sisa IN, Mooyoung YoonAls Experte für die Anliegen südkoreanischer Arbeitnehmer*innen ist Jong-Jin Kim im Koreanischen Institut für Arbeit und Gesellschaft als leitender Forscher tätig. Er ist Mitglied im Ausschuss für die Plattformindustrie der Regierung, die dem Ausschuss für Wirtschaft, Soziales und Arbeit unterstellt ist, zudem ist er stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für jugendpolitische Strategie unter der Leitung des südkoreanischen Vizepräsidenten.